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  • Symbolbild. Foto: unsplash/Tess

„Ich fühlte mich wertlos, schmutzig, leer und verloren“

Gewalt. Zwang. Täuschung. Ausbeutung. Die Mitternachtsmission in Heilbronn hat sich – als eine von zwei Fachberatungsstellen in Baden-Württemberg – auf die Fahnen geschrieben, Frauen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden sind, aufzufangen, zu unterstützen, zu begleiten und ihnen wieder den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Jessica Anderson und Sara Huschmann sind Ansprechpartnerinnen für Frauen, die den Ausstieg geschafft und sich an die Fachberatungsstelle gewandt haben. Bei einer Informationsveranstaltung zum Thema „Menschenhandel“ klären sie nicht nur über Zahlen und Fakten auf, sondern geben auch ganz intime Einblicke in das Erlebte einer Betroffenen.

Ein Brief, um Frauen in einer ähnlichen Situation zu ermutigen

„Wir wollen jetzt eine von Zwangsprostitution betroffene Frau selbst zu Wort kommen lassen. Eine Frau, die wir schon seit längerer Zeit in einer unserer anonymen und dezentralen Schutzunterkünfte begleiten, hat zu diesem Zweck einen Brief geschrieben, den ich heute hier vorlesen darf. Sie hat den Brief genau so geschrieben, wie ich ihn vortragen werde. Verfasst hat sie ihn mit dem Wunsch, Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zu ermutigen“, erklärt Anderson und betont: „Der Brief ist nur vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Ansonsten sind das genau ihre Worte, die ich vorlesen werde. Sie verwendet dabei die Ansprache „Liebe Frau“ und schreibt den Text in der Du-Form. Ich finde diesen Brief sehr besonders. Vor allem auch, weil er zeigt, wie unterschiedlich die Hintergründe sein können, aus denen die Frauen kommen, die Opfer von Zwangsprostitution werden.“

„Es kostet mich viel Mut“

„Liebe Frau,

ich freue mich, meine Geschichte mit Dir zu teilen. Es kostet mich viel Mut, diese aufzuschreiben. Meine größte Motivation dafür war der Gedanke, dass durch das Teilen meiner Geschichte irgendjemand irgendwo eine Lektion daraus lernen könnte. Es könntest Du sein, die Du gerade diesen Text liest oder jemand, mit dem Du ihn teilen kannst.“

Mutter mit 16

„Ich bin in Westafrika in einer polygamen Familie geboren und aufgewachsen. Als einziges Mädchen meiner Mutter. Als ich 16 Jahre alt war, wurde ich Opfer einer Vergewaltigung. Daraus resultierte eine Schwangerschaft, die mich zur jungen Mutter eines kleinen Mädchens machte. Meine Mutter unterstützte mich sehr, indem sie nach der Geburt auf mein Kind aufpasste, während ich weiter zur Schule ging. Leider starb zwei Jahre später meine Mutter aufgrund von chronischem Gebärmutterkrebs. Meine Tante, also die Schwester meiner Mutter, war wie eine Mutter für mich und entschied sich, für meine Tochter zu sorgen, damit ich meine Schulbildung fortsetzen konnte. Sie zog mit meiner Tochter in die südliche Region des Landes, wo sie lebte. Ich blieb zurück und kämpfte darum, mir ein eigenes, passendes Leben aufzubauen, damit es mir eines Tages möglich sein würde, meinem Kind zu helfen.“

„Ich konnte nicht einfach zusehen, wie meine Träume zerschlagen wurden“

„Ich war schon immer eine optimistische Frau mit vielen Träumen, die jeden Tag darum kämpfte, diese zu erreichen. Einer meiner größten Träume war, die Highschool zu beenden und in Europa zu studieren. Ich überredete meinen Vater, den Prozess für mich zu starten, weil die Schulen aufgrund der andauernden Krise in unserem Land schließen mussten. Mein Vater half mir, die Durchführung der Reise weiterzuverfolgen und förderte meine Bemühungen, bis er aufgrund seiner Kooperation als Aktivist in der andauernden Krise in unserem Land festgenommen und inhaftiert wurde. Allein gelassen konnte ich nicht einfach nur dabei zusehen, wie meine Träume zerschlagen wurden. Ich wanderte von der nordwestlichen in die westliche Region und suchte verzweifelt eine Arbeit oder einfach nur einen sicheren Ort, um ein neues Leben zu beginnen.“

Ein Fremder hilt weiter

„Glücklicherweise ergab sich der Kontakt zu einem völlig Fremden, dem ich erklärte, wie elend mein Leben war. Er entschied, mir zu helfen. Ich erzählte ihm von dem Prozess mit der Schule und wie weit mein Vater und ich bisher gekommen waren. Er nahm mich mit zu seinem Zuhause und gab mir einen Ort, an dem ich bleiben konnte. Ich arbeitete eine Weile für ihn und überraschenderweise teilte er mir eines Tages mit, dass ich ihm die Daten meiner Schule nennen sollte. Ich gab sie ihm und er half mir, indem er Kontakt zur Schule aufnahm. Er gab mir die Information, dass mein Studentenvisum bereits versandt wurde und nur noch die Abholung ausstand. Ich verließ ihn, ging zur Botschaft, holte es ab und er besorgte ein Flugticket für mich. Da ich niemanden in Europa kannte, erzählte mir der Mann, dass er einen Freund dort hätte, mit dem ich Kontakt aufnehmen könne, sodass er mich beim Prozess, ein Wohnheim zu finden und die Schule zu beginnen, unterstützen könne. Der Tag des Abflugs kam und ich verließ meine Heimat.“

„Hier begannen meine Qualen“

„Ich landete am Flughafen, rief die Nummer seines Freundes an und er holte mich ab. Er brachte mich zu sich nach Hause und ich wohnte für eine Woche bei ihm. Eines Abends kam er zu mir und sagte: ‚Mach dich bereit. Ich fahre dich zu deinem Studentenwohnheim.‘ Wir fuhren ein paar Stunden und kamen an einem bestimmten Gebäude an. Ich ging herein und wurde in eines der Zimmer als mein Studentenzimmer geführt. Er ging in derselben Nacht weg. Davor forderte er meine Unterlagen und Zertifikate ein und sagte, dass er sie brauche, um das Aufnahmeverfahren für die Schule abschließen zu können. Er sagte mir, dass er sie am nächsten Tag zurückbringen würde, wenn alles erledigt sei. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Und hier begannen meine Qualen.“

„Ich wurde gezwungen, misshandelt, missbraucht“

„Ich wurde meiner Möglichkeit zu kommunizieren, meiner Freiheit und der Freiheit, mich selbst auszudrücken, beraubt. Hier traf ich alle möglichen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, die ich nicht verstehen konnte. Mein Handy wurde beschlagnahmt. Für meine Versuche, zu schreien oder nicht mitzumachen, wurde ich geschlagen. Alle möglichen Männer kamen und missbrauchten meinen Körper. Ob ich wollte oder nicht, wurde ich gezwungen, misshandelt, missbraucht. Ich fühlte mich wertlos, schmutzig, leer, verloren, niedergeschlagen. Ich dachte viele Male daran, mir selbst das Leben zu nehmen, aber ich erinnerte mich daran, dass ich eine Tochter habe, deren Aufenthaltsort ich nicht kannte. Einen Vater, der im Gefängnis leidet. Eine Familie. Ein zurückgelassenes Ich. Und einen Traum für meine Zukunft, der nie unrealistischer oder unerreichbarer erschien.“

„Alles, was ich hatte, war weg“

„Ich verlor mein Vertrauen und meinen Glauben. Ich verlor meinen Wert, meine Würde und meinen Respekt. Alles, was ich hatte, war weg. Aber da war eine Sache, die blieb: Leben. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass jeder Herzschlag ein Grund zur Hoffnung ist und der einzige Moment, in dem es keinen Grund mehr zu hoffen gibt, der ist, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Daran dachte ich, ging auf meine Knie, betete zu Gott, schrie zu ihm und bat ihn um Hilfe. Diese kam nicht so schnell, wie ich sie wollte, aber um Dir die Wahrheit zu sagen: Sie kam.“

„Ich war fähig, meine Leiden zu überwinden“

„Ich begegnete einem barmherzigen Samariter, der mir half, zu flüchten. Ich entkam, rannte hilflos weg und wurde zu einer Polizeiwache geleitet. Dort wurde mir gesagt, dass ich in Deutschland sei. Um ehrlich zu sein, war Deutschland nicht mein Ziel, als ich mein Zuhause verlassen habe, aber ich glaubte, dass alles aus einem bestimmten Grund passierte. Im weiteren Verlauf wurde ich mit der Mitternachtsmission bekannt gemacht, die einen starken Einfluss auf meine Heilung hatte. Bei mir wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Ich nahm Therapien und Medikamente in Anspruch und bekam Beratung von ihnen: moralisch, geistig, pädagogisch, gesellschaftlich und so weiter. Langsam aber sicher war ich fähig, meine Leiden bis zu diesem Punkt, an dem ich heute stehen darf, zu überwinden. Ich gewann meinen inneren Frieden, meine Würde und meinen Wert zurück und bin auf dem Weg, mein Traumleben aufzubauen.“

„Es gibt immer eine zweite Chance im Leben“

„Liebe Frau, am Ende angekommen möchte ich Dir mitgeben, dass es immer eine zweite Chance im Leben gibt – unabhängig davon, wie zerstört und zerbrochen Dein Leben Dir erscheint. Es gibt immer Raum, um ganz neu anzufangen – wenn Du daran glaubst. Ich würde Dir gerne erzählen, dass ich alles, was ich verloren habe, zurückgewonnen habe, aber ich bin noch auf der Reise, das wiederzuerlangen. Und sogar noch mehr. Triff jetzt die Entscheidung und such nach Hilfe. Es gibt Menschen und Organisationen, die Dir dabei helfen können, Dein Leben wieder auf den richtigen Weg zu bringen.“

 „Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher“

Laut Bundeslagebild des Bundeskriminalamtes gab es 2019 in Deutschland 287 Verfahren wegen Zwangsprostitution, an denen 427 Betroffene beteiligt waren. Hierbei handelt es sich aber ausschließlich um abgeschlossene Verfahren, also das Hellfeld der Polizei. Fachberatungsstellen sind sich einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Über die Dunkelziffer herrsche sogar eine „weitestgehende Unkenntnis“, wie Sara Huschmann von der Mitternachtsmission erklärt. „Das liegt an der Randgruppenproblematik, daran, dass Staatsanwaltschaften aufgrund höherer Erfolgschancen oft auf einfacher anzuwendende Straftatbestände ausweichen (zum Beispiel Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz) oder die Opfer aufgrund ihrer Traumata nicht in der Lage sind, auszusagen. Oftmals kommt es erst gar nicht zur Anzeige, also erscheint der Fall auch nicht in der polizeilichen Statistik. Somit ist bei den Zahlen, Menschenhandel und Zwangsprostitution betreffend, höchste Vorsicht geboten.“

Im vergangenen Jahr haben sich nach Informationen des Arbeitskreises „Aktiv gegen Menschenhandel“ allein in Baden-Württemberg 350 Betroffene von Zwangsprostitution an Fachberatungsstellen gewandt.

Kontakt zur Heilbronner Mitternachtsmission: Steinstraße 8 | 74072 Heilbronn | Telefon: 07131/84 531

Text: Priscilla Dekorsi

 

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Markiert in BriefZwangsprostitution
Kommentare (1)
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