Die Freie Waldorfschule Schwäbisch Hall e.V. ist ein Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen können. Der Gutshofcharakter der Anlage auf dem Teurershof, einem alten Hofgut hoch über dem Stadtzentrum, ist noch sichtbar, nur behutsam wurden die alten Gemäuer den Bedürfnissen der Schule entsprechend umgebaut. Die riesige Scheune, die momentan als Lagerplatz genutzt wird, soll ebenfalls irgendwann renoviert werden. Am Eingang zum Schulgelände begrüßt ein relativ neues Gebäude den Besucher, das mit dem Fähnchen auf dem Dach entfernt an ein Zirkuszelt erinnert: die Übungshalle des Circus Compostelli. Bis zu 180 Kinder und Jugendliche trainieren hier jede Woche.
Waldorfpädagogik durch Fernunterricht stark eingeschränkt
Doch das weitläufige Schulgelände ist in diesen Tagen coronabedingt kaum belebt. Nur wenige der rund 450 Schüler dürfen zum Unterricht kommen – die Abschlussklassen zur Prüfungsvorbereitung, ein paar Lehrer und Mitarbeiter der Verwaltung. „Wir haben eine Kombi aus Fern- und Präsenzunterricht“, sagt der pädagogische Geschäftsführer, Dr. Fabian Stoermer. „Es ist eine Herausforderung, denn plötzlich sehen die Eltern, Schüler und Lehrer, wer was wann auf der Plattform einstellt.“ Er findet das richtig, aber: „Transparenz muss auch fair sein.“ Um ihre Schüler zu unterstützen, laden die Lehrer kleine Filme mit persönlichen Botschaften hoch, etwas, das von den Eltern stark nachgefragt wurde. „Da ist viel Schönes dabei“, findet Dr. Stoermer, der hofft, dass es so bleibt. „Die momentane Situation ist ungünstig für unsere Pädagogik, denn die Schüler-Lehrer-Beziehung und die sinnliche, direkte Erfahrung ist hier ein tragendes Element.“ Das gehe im Fernunterricht nicht so gut. Ein großer Bereich der Pädagogik der Waldorfschule sei stark eingeschränkt zurzeit, dennoch zeigt sich der gebürtige Karlsruher zufrieden.
„Es war eine Ausnahmesituation“
In 2020 ging es hier allerdings nicht immer so beschaulich zu, die Schulgemeinschaft erlebte ein anstrengendes Jahr mit Höhen und Tiefen. „Es war eine Ausnahmesituation“, blickt der 55-Jährige zurück. „Sowas hatten wir vorher noch nicht und damit haben wir auch nicht gerechnet“, spielt er auf einen Missbrauchsfall an, der an der Schule stattgefunden haben soll und die Schulgemeinschaft nachhaltig schockierte: Ein Lehrer soll vor einigen Jahren zwei Mädchen sexuell missbraucht haben. Erst im Sommer 2020 fand eines der Kinder den Mut, sich einem Sozialarbeiter anzuvertrauen. Nach einer Anzeige meldete sich auch das zweite Mädchen mit den gleichen Vorwürfen. Der Lehrer, seit Jahren an der Waldorfschule tätig, sitzt seit August 2020 in U-Haft. Der Prozess soll am 16. Februar 2021 vor dem Landgericht Heilbronn beginnen.
„Es gab keinen Grund, an den Aussagen der Mädchen zu zweifeln“
„Zuerst dachte ich, das kann nicht sein“, erklärt Dr. Stoermer. Er unterrichtet seit 2005 Deutsch, Geschichte und Ethik in der Oberstufe, kennt den Lehrer seit Jahren. „Das ist menschlich erschütternd.“ Die Schule sei wie eine große Familie, in der man sich sehr gut kenne. Im Kollegium werde darüber gesprochen, viele Lehrer hätten teils enge Verbindungen zu dem Mann gehabt. Noch zu Beginn der Sommerferien hatte der pädagogische Geschäftsführer ein gutes Gefühl. Doch schon Anfang August kam der Anruf des Schulsozialarbeiters – der signalisierte gleich, dass er keinen Grund habe, an den Aussagen der Mädchen zu zweifeln. „Deshalb war auch immer klar, dass wir den beiden glauben.“ Klar war auch sofort, dass aus dem Fall kein Geheimnis gemacht wird. „Das war uns wichtig, denn Schwäbisch Hall ist ein Dorf, da erfahren die Leute sowieso alles ganz schnell“, begründet er seinen offenen Umgang mit dem Fall. Außerdem könne nur eine „offene Kommunikation helfen, das Geschehene zu verarbeiten und zu verhindern, dass es sich wiederholt“. Zusätzlich beginne dann auch gleich die Arbeit, die man damit hat: „Informationen an die Ermittlungsbehörden weitergeben, den Dachverband und die Schulgemeinschaft informieren.“ Am ersten Schultag gab es für die betroffene Klasse einen Elternabend mit einer Vertreterin der Heilbronner Fachberatungsstelle „Pfiffigunde“ und Frau Klinger von der Erziehungsberatung beim Landratsamt Schwäbisch Hall. Zwei Tage später folgte ein Gesamtelternabend, bei dem neben der Fachberaterin der Pfiffigunde abermals Frau Klingner vom Landratsamt Schwäbisch Hall und die gerade neu eingestellte Fachberaterin für sexuellen Missbrauch beim Landratsamt teilgenommen haben. Nach einem weiteren Informationsabend mit der Vertreterin der Heilbronner Fachberatungsstelle haben die Eltern aus der besonders betroffenen Klasse einen Gesprächskreis gebildet, für den die Schule eine Supervision durch eine ausgebildete externe Fachkraft zur Verfügung stellt. „Das Lehrerkollegium hatte bereits 2019 eine Fortbildung zum Thema Kindeswohlgefährdung mit Frau Dinse vom Jugendamt Schwäbisch Hall besucht“, blickt der Lehrer zurück.
„Stärkung der Kinder“
Als nächsten Schritt beschloss die Schule, ihr Schutzkonzept „Stärkung der Kinder“ zu überarbeiten, über das man sich vor einem Jahr beraten habe und das auch bei häuslicher Gewalt greife. Es bezieht Eltern und Lehrer mit ein. In diesem Rahmen soll eine Atmosphäre entstehen, die es allen Beteiligten erlaubt, Kritik zu äußern und leichte Wege zu finden, sich über Dinge zu informieren. Die Weiterentwicklung wird von zwei Damen begleitet: einer Vertreterin vom Bund der Freien Waldorfschule, die das Thema schon lange bearbeitet, und einer Organisationsentwicklerin mit Ausbildung in dem Bereich: „Wir wollten Beratung auch von außerhalb unserer Schule“. Außerdem orientiere man sich „an den Leitlinien, die ein runder Tisch im Gefolge von Missbrauchsskandalen erarbeitet hat und die vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Form einer Broschüre zur Verfügung gestellt worden sind“.
„Die Frage war, wie man den Schülern helfen kann, damit umzugehen“
Das Ereignis vom Sommer 2020 habe sie aufgeweckt: „Das hat uns gezeigt, dass wir etwas verbessern müssen.“ Es soll jetzt eine Vertrauensstelle aus Eltern und Schulsozialarbeit definiert und eingerichtet werden. „Wir hatten schon vorher Vertrauenslehrer und einen Vertrauensrat mit sechs Mitgliedern: ein Lehrer, ehemalige Eltern sowie Menschen aus dem externen Umfeld“, erklärt Dr. Stoermer. Die Schulsozialarbeit sei mit zwei Personen bereits fest installiert. „Das sollten Menschen mit Erfahrung in Mediation sein.“ Es sei aber nicht als Beschwerdestelle zu verstehen, sondern da könne man sich hinwenden, wenn man das Gefühl hat, dass Gespräche einen nicht weiterbringen. Die Themen werden dann professionell und diskret bearbeitet. „Das, was wir jetzt machen, müssen wir weiterverfolgen“, ist der Lehrer überzeugt. Außerdem gab es eine Supervision für Lehrer und Eltern und die besonders betroffenen Klassen. „Die Frage war, wie man den Schülern helfen kann, damit umzugehen“, sagt er. „Die machen das ganz gut.“ Im Fall einer ehemaligen Schülerin kam es zu einer Re-Traumatisierung. Die Frau hat professionelle Begleitung in Anspruch genommen, die von der Waldorfschule bezahlt wird. „Es kann sein, dass zum Prozessbeginn noch mehr kommt als bisher.“ Doch bis jetzt sei keine große Resonanz auf das Angebot gewesen. Manche Eltern hätten sich auch an öffentliche Stellen gewandt.
„Dann kann es schon sein, dass es Einfluss auf die Schülerzahlen hat“
Vielleicht sind es auch all diese Maßnahmen, die die Eltern davon abgehalten haben, in Scharen der Schule den Rücken zu kehren. „Es gab in dem Zeitraum vielleicht eine oder zwei Abmeldungen, aber nicht mit Bezug darauf“, sagt der Lehrer. „Wir haben hier Eltern, deren Kinder schon älter sind und die die Schule kennen. Die werden auch weiterhin ihre Kinder bringen.“ Wenn das Verfahren eröffnet wird, rechnet er wieder mit steigendem Medieninteresse. „Dann kann es schon sein, dass es Einfluss auf die Schülerzahlen hat.“
„Das erfordert menschliche Nähe“
Dr. Stoermer hat sich eingehender mit der Thematik beschäftigt. Seine Erkenntnis: Einen solchen intimen Zugang könne nur ein beliebter, guter Pädagoge erlangen, denn das erfordere menschliche Nähe. Außerdem: „Ein prozentualer Anteil zeigt, dass es das überall gibt.“
„Das sind Menschengemeinschaften“
An der Schule wird stark über Beziehungen gearbeitet. Von Klasse eins bis acht haben die Schüler immer den gleichen Lehrer. „Das kann toll sein, wenn der vertraute Lehrer den Weg mit in die Pubertät beschreiten kann“, erklärt Dr. Stoermer. „Aber es gibt auch Schattenseiten und so mancher Schüler wäre sicherlich froh über einen Lehrerwechsel.“ Er nennt die Waldorfschulen „Menschengemeinschaften“, die für ihn „etwas ganz Besonderes sind“. Es wird Wert auf demokratische Beteiligung aller – Eltern, Lehrer und Schüler – gelegt. Alle Mitarbeiter erhalten das gleiche Gehalt, hat man Familie, bekommt man etwas mehr für den höheren Bedarf. „Das Geld ist unsere Freistellung“, findet Dr. Stoermer, der erst mit Ende 30 zum Lehrerberuf kam und selbst kein Waldorfschüler war. „Das bekomme ich, damit ich hier arbeiten kann.“ Ein weiterer Demokratie-Bestandteil ist der Schulvorstand, in dem immer auch drei Eltern sitzen und der die Geschicke der Schulgemeinschaft bestimmt. Dr. Stoermer schätzt an der Schule vor allem, „dass man hier viel mitgestalten und auch die Arbeitsumgebung selbst gestalten kann.“ Das aber bringe auch eine hohe Verpflichtung auf Transparenz, wechselseitige Kritik und Achtsamkeit mit sich. Der Schulrat tagt einmal im Monat. Hier kommen Eltern, Lehrern, SMV-Vertreter sowie alle Schulleitungsgremien zusammen. Hier berichten immer wieder auch Schüler, die ihren Abschluss gemacht haben, über ihre Erfahrungen und geben Einschätzungen zu positiven und negativen Aspekten ihrer Schulzeit ab. Im Schulrat erzählen ehemalige Schüler was in ihren Augen gut und weniger gut war. „Hier kann man die Menschen direkt ansprechen“, so der Lehrer.
Text: Sonja Bossert
Info:
Seit 1984 gibt es die Freie Waldorfschule e.V. in Schwäbisch Hall, die staatliche anerkannt ist und zum Verband der Freien Waldorfschulen Baden-Württemberg gehört. Neben den Klassenzimmern, die teilweise in drei Pavillons untergebracht sind, gibt es eine Turnhalle, Schülerwerkstätten mit Schmiede, Schreinerei und Atelier, Schulgarten, Hühnerhaus sowie Küche und Mensa.
Alle Abschlüsse möglich
Die Klassen der Jahrgangsstufen eins bis 13 sind mit jeweils bis zu 36 Schülern einzügig. Zwei Stunden täglich haben die Schüler gemeinsamen Hauptunterricht, danach werden die Klassen aufgeteilt in Fachgruppen mit zwölf bis 18 Schülern. 60 Pädagogen sind an der Schule beschäftigt, knapp 40 davon in Vollzeit. An der Waldorfschule können der Hauptschulabschluss, Mittlere Reife, Fachhochschulreife und nach Klasse 13 das Abitur erworben werden. Im Wesentlichen legen die Waldorfschüler die gleichen Prüfungen ab wie an den staatlichen Schulen, allerdings können die Waldorfschulen in bestimmten Fächern eigene Themen setzen. Und der Lehrplan der Oberstufe behandelt Themen, die nicht an den staatlichen Schulen vorkommen. Ein weiterer Unterschied: Die Vorleistungen aus Klasse elf und zwölf werden beim Abitur nicht mit eingerechnet. Sollte die schriftliche Note nicht so gut ausfallen, kann anschließend freiwillig noch eine mündliche Prüfung in dem jeweiligen Fach abgelegt werden. Etwas über ein Drittel eines Jahrgangs macht an der Haller Waldorfschule das Abitur, weniger als zwölf die Mittlere Reife. In Klasse neun absolvieren alle Schüler ein Praktikum in der Forstwirtschaft, in Klasse zehn ein individuelles in der Landwirtschaft, das manche Jugendlichen sogar ins Ausland führt.
Coronabedingt keinen Tag der offenen Tür in diesem Jahr
Infoabende und der Tag der offenen Tür wurden wegen der Corona-Pandemie verschoben oder ganz abgesagt. Interessierte Eltern können sich unverbindlich direkt bei Dr. Stoermer per E-Mail unter f.stoermer@waldorfschule-hall.de melden, denn individuelle Gespräche sind erlaubt. Weitere Infos auf der Homepage https://www.waldorfschule-hall.de/.

Die Übungshalle des Circus Compostelli. Foto: GSCHWÄTZ

Eins der Schulgebäude mit Klassenzimmern, Eurythmieräumen und der großen KulturScheune. Foto: GSCHWÄTZ

Der Glockenturm war ein Bauprojekt der Schüler. Foto: GSCHWÄTZ

Einer der Werkräume der Waldorfschule. Foto: GSCHWÄTZ

Die Schmiede. Foto: GSCHWÄTZ

Erzeugnisse aus der Buchbinderei. Foto: GSCHWÄTZ

Auch mit Holz arbeiten die Waldorfschüler. Foto: GSCHWÄTZ

Hier drehen Lehrer Videos für ihre Schüler. Foto: GSCHWÄTZ