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„Ich fühlte mich wertlos, schmutzig, leer und verloren“

Gewalt. Zwang. Täuschung. Ausbeutung. Die Mitternachtsmission in Heilbronn hat sich – als eine von zwei Fachberatungsstellen in Baden-Württemberg – auf die Fahnen geschrieben, Frauen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden sind, aufzufangen, zu unterstützen, zu begleiten und ihnen wieder den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Jessica Anderson und Sara Huschmann sind Ansprechpartnerinnen für Frauen, die den Ausstieg geschafft und sich an die Fachberatungsstelle gewandt haben. Bei einer Informationsveranstaltung zum Thema „Menschenhandel“ klären sie nicht nur über Zahlen und Fakten auf, sondern geben auch ganz intime Einblicke in das Erlebte einer Betroffenen.

Ein Brief, um Frauen in einer ähnlichen Situation zu ermutigen

„Wir wollen jetzt eine von Zwangsprostitution betroffene Frau selbst zu Wort kommen lassen. Eine Frau, die wir schon seit längerer Zeit in einer unserer anonymen und dezentralen Schutzunterkünfte begleiten, hat zu diesem Zweck einen Brief geschrieben, den ich heute hier vorlesen darf. Sie hat den Brief genau so geschrieben, wie ich ihn vortragen werde. Verfasst hat sie ihn mit dem Wunsch, Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zu ermutigen“, erklärt Anderson und betont: „Der Brief ist nur vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Ansonsten sind das genau ihre Worte, die ich vorlesen werde. Sie verwendet dabei die Ansprache „Liebe Frau“ und schreibt den Text in der Du-Form. Ich finde diesen Brief sehr besonders. Vor allem auch, weil er zeigt, wie unterschiedlich die Hintergründe sein können, aus denen die Frauen kommen, die Opfer von Zwangsprostitution werden.“

„Es kostet mich viel Mut“

„Liebe Frau,

ich freue mich, meine Geschichte mit Dir zu teilen. Es kostet mich viel Mut, diese aufzuschreiben. Meine größte Motivation dafür war der Gedanke, dass durch das Teilen meiner Geschichte irgendjemand irgendwo eine Lektion daraus lernen könnte. Es könntest Du sein, die Du gerade diesen Text liest oder jemand, mit dem Du ihn teilen kannst.“

Mutter mit 16

„Ich bin in Westafrika in einer polygamen Familie geboren und aufgewachsen. Als einziges Mädchen meiner Mutter. Als ich 16 Jahre alt war, wurde ich Opfer einer Vergewaltigung. Daraus resultierte eine Schwangerschaft, die mich zur jungen Mutter eines kleinen Mädchens machte. Meine Mutter unterstützte mich sehr, indem sie nach der Geburt auf mein Kind aufpasste, während ich weiter zur Schule ging. Leider starb zwei Jahre später meine Mutter aufgrund von chronischem Gebärmutterkrebs. Meine Tante, also die Schwester meiner Mutter, war wie eine Mutter für mich und entschied sich, für meine Tochter zu sorgen, damit ich meine Schulbildung fortsetzen konnte. Sie zog mit meiner Tochter in die südliche Region des Landes, wo sie lebte. Ich blieb zurück und kämpfte darum, mir ein eigenes, passendes Leben aufzubauen, damit es mir eines Tages möglich sein würde, meinem Kind zu helfen.“

„Ich konnte nicht einfach zusehen, wie meine Träume zerschlagen wurden“

„Ich war schon immer eine optimistische Frau mit vielen Träumen, die jeden Tag darum kämpfte, diese zu erreichen. Einer meiner größten Träume war, die Highschool zu beenden und in Europa zu studieren. Ich überredete meinen Vater, den Prozess für mich zu starten, weil die Schulen aufgrund der andauernden Krise in unserem Land schließen mussten. Mein Vater half mir, die Durchführung der Reise weiterzuverfolgen und förderte meine Bemühungen, bis er aufgrund seiner Kooperation als Aktivist in der andauernden Krise in unserem Land festgenommen und inhaftiert wurde. Allein gelassen konnte ich nicht einfach nur dabei zusehen, wie meine Träume zerschlagen wurden. Ich wanderte von der nordwestlichen in die westliche Region und suchte verzweifelt eine Arbeit oder einfach nur einen sicheren Ort, um ein neues Leben zu beginnen.“

Ein Fremder hilt weiter

„Glücklicherweise ergab sich der Kontakt zu einem völlig Fremden, dem ich erklärte, wie elend mein Leben war. Er entschied, mir zu helfen. Ich erzählte ihm von dem Prozess mit der Schule und wie weit mein Vater und ich bisher gekommen waren. Er nahm mich mit zu seinem Zuhause und gab mir einen Ort, an dem ich bleiben konnte. Ich arbeitete eine Weile für ihn und überraschenderweise teilte er mir eines Tages mit, dass ich ihm die Daten meiner Schule nennen sollte. Ich gab sie ihm und er half mir, indem er Kontakt zur Schule aufnahm. Er gab mir die Information, dass mein Studentenvisum bereits versandt wurde und nur noch die Abholung ausstand. Ich verließ ihn, ging zur Botschaft, holte es ab und er besorgte ein Flugticket für mich. Da ich niemanden in Europa kannte, erzählte mir der Mann, dass er einen Freund dort hätte, mit dem ich Kontakt aufnehmen könne, sodass er mich beim Prozess, ein Wohnheim zu finden und die Schule zu beginnen, unterstützen könne. Der Tag des Abflugs kam und ich verließ meine Heimat.“

„Hier begannen meine Qualen“

„Ich landete am Flughafen, rief die Nummer seines Freundes an und er holte mich ab. Er brachte mich zu sich nach Hause und ich wohnte für eine Woche bei ihm. Eines Abends kam er zu mir und sagte: ‚Mach dich bereit. Ich fahre dich zu deinem Studentenwohnheim.‘ Wir fuhren ein paar Stunden und kamen an einem bestimmten Gebäude an. Ich ging herein und wurde in eines der Zimmer als mein Studentenzimmer geführt. Er ging in derselben Nacht weg. Davor forderte er meine Unterlagen und Zertifikate ein und sagte, dass er sie brauche, um das Aufnahmeverfahren für die Schule abschließen zu können. Er sagte mir, dass er sie am nächsten Tag zurückbringen würde, wenn alles erledigt sei. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Und hier begannen meine Qualen.“

„Ich wurde gezwungen, misshandelt, missbraucht“

„Ich wurde meiner Möglichkeit zu kommunizieren, meiner Freiheit und der Freiheit, mich selbst auszudrücken, beraubt. Hier traf ich alle möglichen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, die ich nicht verstehen konnte. Mein Handy wurde beschlagnahmt. Für meine Versuche, zu schreien oder nicht mitzumachen, wurde ich geschlagen. Alle möglichen Männer kamen und missbrauchten meinen Körper. Ob ich wollte oder nicht, wurde ich gezwungen, misshandelt, missbraucht. Ich fühlte mich wertlos, schmutzig, leer, verloren, niedergeschlagen. Ich dachte viele Male daran, mir selbst das Leben zu nehmen, aber ich erinnerte mich daran, dass ich eine Tochter habe, deren Aufenthaltsort ich nicht kannte. Einen Vater, der im Gefängnis leidet. Eine Familie. Ein zurückgelassenes Ich. Und einen Traum für meine Zukunft, der nie unrealistischer oder unerreichbarer erschien.“

„Alles, was ich hatte, war weg“

„Ich verlor mein Vertrauen und meinen Glauben. Ich verlor meinen Wert, meine Würde und meinen Respekt. Alles, was ich hatte, war weg. Aber da war eine Sache, die blieb: Leben. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass jeder Herzschlag ein Grund zur Hoffnung ist und der einzige Moment, in dem es keinen Grund mehr zu hoffen gibt, der ist, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Daran dachte ich, ging auf meine Knie, betete zu Gott, schrie zu ihm und bat ihn um Hilfe. Diese kam nicht so schnell, wie ich sie wollte, aber um Dir die Wahrheit zu sagen: Sie kam.“

„Ich war fähig, meine Leiden zu überwinden“

„Ich begegnete einem barmherzigen Samariter, der mir half, zu flüchten. Ich entkam, rannte hilflos weg und wurde zu einer Polizeiwache geleitet. Dort wurde mir gesagt, dass ich in Deutschland sei. Um ehrlich zu sein, war Deutschland nicht mein Ziel, als ich mein Zuhause verlassen habe, aber ich glaubte, dass alles aus einem bestimmten Grund passierte. Im weiteren Verlauf wurde ich mit der Mitternachtsmission bekannt gemacht, die einen starken Einfluss auf meine Heilung hatte. Bei mir wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Ich nahm Therapien und Medikamente in Anspruch und bekam Beratung von ihnen: moralisch, geistig, pädagogisch, gesellschaftlich und so weiter. Langsam aber sicher war ich fähig, meine Leiden bis zu diesem Punkt, an dem ich heute stehen darf, zu überwinden. Ich gewann meinen inneren Frieden, meine Würde und meinen Wert zurück und bin auf dem Weg, mein Traumleben aufzubauen.“

„Es gibt immer eine zweite Chance im Leben“

„Liebe Frau, am Ende angekommen möchte ich Dir mitgeben, dass es immer eine zweite Chance im Leben gibt – unabhängig davon, wie zerstört und zerbrochen Dein Leben Dir erscheint. Es gibt immer Raum, um ganz neu anzufangen – wenn Du daran glaubst. Ich würde Dir gerne erzählen, dass ich alles, was ich verloren habe, zurückgewonnen habe, aber ich bin noch auf der Reise, das wiederzuerlangen. Und sogar noch mehr. Triff jetzt die Entscheidung und such nach Hilfe. Es gibt Menschen und Organisationen, die Dir dabei helfen können, Dein Leben wieder auf den richtigen Weg zu bringen.“

 „Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher“

Laut Bundeslagebild des Bundeskriminalamtes gab es 2019 in Deutschland 287 Verfahren wegen Zwangsprostitution, an denen 427 Betroffene beteiligt waren. Hierbei handelt es sich aber ausschließlich um abgeschlossene Verfahren, also das Hellfeld der Polizei. Fachberatungsstellen sind sich einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Über die Dunkelziffer herrsche sogar eine „weitestgehende Unkenntnis“, wie Sara Huschmann von der Mitternachtsmission erklärt. „Das liegt an der Randgruppenproblematik, daran, dass Staatsanwaltschaften aufgrund höherer Erfolgschancen oft auf einfacher anzuwendende Straftatbestände ausweichen (zum Beispiel Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz) oder die Opfer aufgrund ihrer Traumata nicht in der Lage sind, auszusagen. Oftmals kommt es erst gar nicht zur Anzeige, also erscheint der Fall auch nicht in der polizeilichen Statistik. Somit ist bei den Zahlen, Menschenhandel und Zwangsprostitution betreffend, höchste Vorsicht geboten.“

Im vergangenen Jahr haben sich nach Informationen des Arbeitskreises „Aktiv gegen Menschenhandel“ allein in Baden-Württemberg 350 Betroffene von Zwangsprostitution an Fachberatungsstellen gewandt.

Kontakt zur Heilbronner Mitternachtsmission: Steinstraße 8 | 74072 Heilbronn | Telefon: 07131/84 531

Text: Priscilla Dekorsi

 




Frau Varga und ihre Sexarbeiterinnen

Zwangsprostitution. Gibt man diesen Begriff bei Google ein, erscheint als erstes ein Wikipedia-Artikel, der den Begriff folgendermaßen definiert: „Zwangsprostitution bezeichnet die illegale Praxis, Menschen zur Arbeit als Prostituierte zu zwingen. Davon betroffen sind überwiegend Frauen und Kinder. Zwangsprostitution tritt in der Regel im Zusammenhang mit Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung auf. Der Zwang kann durch physische und psychische GewaltTäuschungErpressung, Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit des Opfers ausgeübt werden.“

Auch bei uns ein Thema

Für Sara Huschmann und Jessica Anderson von der Heilbronner Mitternachtsmission, einer der beiden Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel in Baden-Württemberg ist Zwangsprostitution mehr. Es sind persönliche Schickale. Es sind Lebens- und Leidengeschichten, die dem Grauen ein Gesicht geben, aber auch Hoffnung darauf aufkommen lassen, dass es immer einen Ausweg gibt. Denn ihre KlientInnen, vorwiegend Frauen, die zur Zwangsprostitution gezwungen werden, haben es geschafft, den ersten Schritt in Richtung Freiheit zu gehen – sie haben sich Hilfe geholt. Huschmann betont bei einer Informationsveranstaltung zum Thema „Menschenhandel“: Täglich werden, auch in Baden-Württemberg, auch in unserer Region, Frauen missbraucht und vergewaltigt, um daraus Profit zu schlagen.

Wir porträtieren für Euch drei mutige Frauen, die es geschafft haben, auszusteigen

Wir porträtieren für Euch drei mutige Frauen, die es geschafft haben, auszusteigen. Heute beleuchten wir die Geschichte von M. (alle hier portraitierten Frauen möchten verständlicherweise anonym bleiben).

Aus Osteuropa nach Baden-Württemberg

Jessica Anderson berichtet von M.s Schicksal: M. ist in einem kleinen Ort in Osteuropa aufgewachsen. Sie ist verheiratet und hat eine dreizehnjährige Tochter. Das Geld ist oft knapp und für die kleine Familie ist es nicht einfach, über die Runden zu kommen. Eines Tages lernt M. Frau Varga kennen. Sie macht M. ein vielversprechendes Angebot: Sie könne ihr einen Job in Deutschland vermitteln. Im Prostitutionsgewerbe. So könne M. schnell viel Geld verdienen und die junge Familie finanziell absichern. Nach intensiver Beratung mit ihrem Mann trifft M. eine folgenreiche Entscheidung: Sie nimmt Frau Vargas Angebot an. Sie wird nach Deutschland reisen und als Prostituierte arbeiten, um ihre Familie aus ihrer finanziellen Notlage zu befreien. Der Deal zwischen M. und Frau Varga lautet folgendermaßen: Varga nimmt M. mit nach Deutschland, wo M. in einer Wohnung arbeiten kann. Die eine Hälfte des eingenommenen Geldes soll Frau Varga bekommen – die andere darf M. behalten.

Die Wohnung teilt sie sich mit einer weiteren Sexarbeiterin

Gesagt, getan. M. bezieht die Wohnung, in der sie sich ein Zimmer mit einer weiteren Sexarbeiterin, S., teilt. Meistens stehen die beiden jungen Frauen auf der Straße vor ihrem Haus, um Kunden anzuwerben.

Pro Kunde zwischen 50 und 150 Euro

Die Realität in Deutschland entspricht nicht der Abmachung zwischen Varga und M.. M. muss Varga das ganze Geld abgeben, das sie verdient. Pro Kunde entspricht das rund 50 bis 150 Euro. Jedoch geht die junge Osteuropäerin zu Beginn noch davon aus, dass Frau Varga ihr zu einem späteren Zeitpunkt gesammelt die Hälfte des verdienten Geldes auszahlen wird. Nach einer Weile spricht M. Varga jedoch auf die getroffene Abmachung an, denn sie möchte ihrer Familie Geld zusenden. Varga übergibt ihr lediglich 200 Euro und vertröstet M. auf später.

Mit der Zeit erhöhte Frau Varga den psychischen Druck

Mit der Zeit erhöht Frau Varga den psychischen Druck auf die jungen Frauen M. und S.. Sie verlangt, dass die beiden Frauen ihr das von ihnen verdiente Geld sofort nach Erhalt abgeben. Das heißt, dass sie das Geld, noch während sie mit dem Kunden im Zimmer sind, unter der Tür durchschieben sollen. Außerdem droht sie den Frauen, ihnen Grausames anzutun, versuchten sie, etwas von dem verdienten Geld für sich zu behalten. Varga kontrolliert die beiden, bestimmt selbst, wann und wie lange M. und S. arbeiten müssen. Sie behält das gesamte Geld der beiden für sich und zwingt sie erbarmungslos, immer weiter- und weiterzuarbeiten.

Sie trifft sich heimlich mit einem Freier, das gibt richtig Ärger

Ein Vorfall hat sich besonders in M.s Gedächtnis gebrannt: Nach einigen Monaten entschließt sie sich dazu, sich heimlich mit einem Freier zu treffen, um das verdiente Geld behalten zu können. S. hat das mitbekommen und Frau Varga davon erzählt. Als Reaktion darauf misshandelt Varga M. körperlich und seelisch schwer und sperrt sie in ihrem Zimmer ein. Kurz darauf kommt Varga mit der Forderung auf M. zu, dass sie duschen und sich für den nächsten Freier bereit machen solle. M. fühlt sich nicht in der Lage dazu, in ihrem Zustand weiterzuarbeiten. Sie ist schwer verletzt, es geht ihr sehr schlecht. Aus Angst gehorcht sie trotzdem.

Ein Polizeiwagen ist ihre Rettung

Als M. einige Zeit später wieder auf der Straße steht, um Kunden anzuwerben, erblickt sie einen Polizeiwagen und rennt sofort darauf los. Sie schilderte den Polizisten ihre Lage. M. erstattet Anzeige. „Die Polizei kontaktierte daraufhin unsere Notfallnummer und die Frau konnte noch am selben Abend in einer unserer dezentralen und anonymen Schutzunterkünfte in Baden-Württemberg aufgenommen werden.“

Opfer sind aufgrund ihrer Traumata oft gar nicht in der Lage sind, auszusagen.

Laut Bundeslagebild des Bundeskriminalamtes gab es 2019 in Deutschland 287 Verfahren wegen Zwangsprostitution, an denen 427 Betroffene beteiligt waren. Hierbei handelt es sich aber ausschließlich um abgeschlossene Verfahren, also das Hellfeld der Polizei. Fachberatungsstellen sind sich einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Über die Dunkelziffer herrsche sogar eine „weitestgehende Unkenntnis“, wie Sara Huschmann erklärt. „Das liegt an der Randgruppenproblematik, daran, dass Staatsanwaltschaften aufgrund höherer Erfolgschancen oft auf einfacher anzuwendende Straftatbestände ausweichen (zum Beispiel Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz) oder die Opfer aufgrund ihrer Traumata nicht in der Lage sind, auszusagen. Oftmals kommt es erst gar nicht zur Anzeige, also erscheint der Fall auch nicht in der polizeilichen Statistik. Somit ist bei den Zahlen, Menschenhandel und Zwangsprostitution betreffend, höchste Vorsicht geboten.“

Im letzten Jahr haben sich nach Informationen des Arbeitskreises „Aktiv gegen Menschenhandel“ allein in Baden-Württemberg 350 Betroffene von Zwangsprostitution an Fachberatungsstellen gewandt.

Kontakt zur Heilbronner Mitternachtsmission: Steinstraße 8 | 74072 Heilbronn | Telefon: 07131/84 531

Text: Priscilla Dekorsi

Foto: Symbolfoto. Quelle: adobe stock




„Wenn du nicht weitermachst, erzähle ich deinen Eltern, was für eine Nutte du bist“

Menschenhandel – wenn man dieses Wort ausspricht, legt sich dessen Schwere wie ein schwarzer Schleier über den Raum. Ein abstrakter schwarzer Schleier, schließlich hatten die wenigsten von uns bisher Kontakt mit Menschenhandel oder Zwangsprostitution und das Klischee besagt: „So etwas gibt es doch nur irgendwo in Osteuropa.“ Dem ist nicht so. Dieses Thema ist nicht immer „so weit weg von uns“, wie es scheint. Sara Huschmann von der Heilbronner Mitternachtsmission arbeitet bei der Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel. Ihre Klient:innen sind vorwiegend Frauen, die zur Zwangsprostitution gezwungen werden. Huschmann weiß: Täglich werden, auch in Baden-Württemberg, Frauen missbraucht und vergewaltigt, um daraus Profit zu schlagen. Wir porträtieren drei mutige Frauen, die es geschafft haben, auszusteigen.

„Am Anfang war er der Traummann“

Sara Huschmann erzählt:

„Frau H. ist in Deutschland geboren und in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg aufgewachsen. Sie war eine ambitionierte Schülerin, ging aufs Gymnasium und ‚wollte nach ihrem Abschluss auf jeden Fall studieren. Sie wusste noch nicht genau was, aber sie wollte, einfach für sich selbst, weiterkommen und sich neues Wissen aneignen‘. Während ihrer Zeit in der Oberstufe lernte H. einen jungen Mann kennen – und verliebte sich unsterblich in ihn. Am Anfang schien alles gut zu sein. H.s neuer Freund war ihr absoluter Traummann – und verhielt sich wie der absolute Traumschwiegersohn. ‚Es war eine Beziehung, die von Komplimenten, Geschenken und einer absoluten Annahme geprägt war.’“

„Er isolierte sie von ihrem Umfeld“

„Was H. erst im Nachhinein aufgefallen ist, war das ständige Bestreben ihres Freundes, sie von ihrem Umfeld zu isolieren. Dadurch, dass H. sich immer weiter von Freunden, Klassenkameraden und Familie entfernte und immer weniger Zeit mit ihnen verbrachte, wurde sie emotional immer abhängiger von ihm. Er steigerte das einige Monate lang immer weiter, bis H. schließlich nur noch auf ihn fokussiert war und kaum mehr Zeit mit anderen Menschen verbrachte.“

„Er hatte Schulden“

„Nach einigen weiteren Monaten offenbarte sich dann der vermeintliche ‚ Traummann‘. Er sagte: ‚Du, hör zu. Ich habe Schulden. Da bin ich einfach so reingerutscht, das war ein Versehen. Es ist wichtig, diese Schulden schnell zu tilgen, damit wir beide eine freie Zukunft miteinander beginnen können – ohne irgendwelche Vorbelastungen.‘ H.s sehnlichster Wunsch war es, eine Familie mit ihrem Partner zu gründen, sich gemeinsam ein Leben aufzubauen und die Zukunft gemeinsam zu verbringen.“

„Sie sollte mit anderen Männern schlafen“

„Einige Wochen nach diesem Gespräch, ist H.s Freund dann plötzlich – und wie er betonte, ‚ganz zufällig‘ – eine Lösung für seine Geldnot eingefallen: ‚Du hör mal‘, sagte er. ‚Ich habe eine Idee, wie wir die Schulden ganz schnell tilgen können. Dann steht unserer gemeinsamen, unkomplizierten, wunderschönen Zukunft nichts mehr im Wege.‘ Auf H.s Rückfrage, wie er sich das denn vorstelle, antwortete er prompt: ‚Es ist ganz einfach: Du schläfst mit ein paar Männern. Dadurch kann man relativ schnell Geld verdienen und unsere Schulden sind weg.‘ Für H. war das keine Frage: ‚Nein, das mache ich nicht. Das möchte ich auf gar keinen Fall.'“

„Nach ihrer Weigerung fing er Streit an“

„Im ersten Moment hat ihr Freund ruhig reagiert, aber er brachte dieses Thema immer wieder bei Gesprächen auf den Tisch – und wurde jedes Mal ungemütlicher. Er hat Streit angefangen, gesagt: ‚Du liebst mich nicht. Du willst nicht, dass wir eine gute Zukunft haben. Wieso kannst Du das nicht für uns tun? Du weißt doch, ich liebe Dich und will nur das Beste für uns.‘ Er hat nicht aufgehört, Streit zu suchen, H. fertig zu machen und sie psychisch unter Druck zu setzen, bis sie unter diesem Druck zusammenbrach und sagte: ‚Okay. Ich werde mich selbst dazu zwingen und es tun.’“

„Sie fühlte sich eklig und dreckig“

„Sie hat also gegen Geld mit Männern geschlafen. Es war für sie ‚ganz schlimm‘. Sie hat sich ‚eklig‘ und ‚dreckig‘ gefühlt und sehr stark darunter gelitten. Nach jedem Mann hat sie, dem Zusammenbruch nahe, gesagt: ‚Ich kann nicht mehr. Das will ich nicht mehr machen.‘ Doch er hat sie gepusht, ihr gesagt: ‚Jetzt komm schon, noch ein paar Mal, dann haben wir es geschafft. Dann können wir eine unbeschwerte Zukunft miteinander haben. Liebst Du mich denn nicht?‘ Einige Male ließ sich H. noch überreden. Für sie war es eine sehr schwierige Situation, denn nach der langen Zeit der Isolation hatte sie niemanden mehr, der ihr nah war und es sie war emotional abhängig von ihrem Peiniger.“

„Der Traummann entpuppte sich als Gewalttäter“

„Nach ungefähr einem Monat sagte H.: ‚Ich kann und will das nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr im Spiegel angucken. Es geht nicht mehr.‘ Der psychische Druck hat nicht mehr dazu ausgereicht, sie zum Weitermachen zu bewegen. Daraufhin entpuppte sich ihr ‚Traummann‘ als brutaler Gewalttäter. Er schlug sie immer wieder, missbrauchte sie, schrie: ‚Du machst das. Wenn du das nicht machst, war das erst der Anfang‘.“

„Er wurde immer brutaler“

„Er hörte nicht auf. ‚Wenn du nicht weitermachst, erzähle ich deinen Eltern und deiner ganzen Familie, was du so treibst, was für eine Nutte du bist und was für eine erbärmliche Tochter sie haben.‘ H. war verängstigt. Sie machte weiter, aber es wurde nicht besser. Er wurde immer brutaler, schlug sie immer weiter. Besonders schlimm war es, als sie es ablehnte, bei ihren Freiern bestimmte Praktiken anzuwenden. H. sagte: ‚Ich kann nicht. Ich halte es nicht aus.‘ Er schlug zu.“

„Mit ihrer Familie ging sie zur Polizei“

„Einige Wochen später schlug er sie so zusammen, dass sie die Spuren im Gesicht nicht mehr verstecken konnte. Ihre Familie sah das und fragte sie, was denn los sei. H. schaffte es, sich zu offenbaren – und fand Unterstützung. Gemeinsam mit ihrer Familie ging H. zur Polizei.“

„Sie ist in die ambulante Beratung gekommen“

„Die Polizei hat, nachdem H. dem zugestimmt hatte, den Kontakt zwischen uns hergestellt und die junge Frau an uns weitervermittelt“, erzählt Sara Huschmann. „Sie hat weiterhin bei ihren Eltern gewohnt und ist dann zu uns in die ambulante Beratung gekommen. Wir haben geschaut, was sie möchte, was sie braucht und sie bei der Suche eines Opferanwalts unterstützt. Wir haben H. darüber aufgeklärt, wie es jetzt weitergeht, sie an Psychologen vermittelt und mit ihr gemeinsam das Erlebte ein Stück weit verarbeitet und ihr Raum gegeben, darüber zu sprechen – ohne irgendwelche Vorurteile.“

Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher

Laut Bundeslagebild des Bundeskriminalamtes gab es 2019 in Deutschland 287 Verfahren wegen Zwangsprostitution, an denen 427 Betroffene beteiligt waren. Hierbei handelt es sich aber ausschließlich um abgeschlossene Verfahren, also das Hellfeld der Polizei. Fachberatungsstellen sind sich einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Über die Dunkelziffer herrsche sogar eine „weitestgehende Unkenntnis“, wie Sara Huschmann erklärt. „Das liegt an der Randgruppenproblematik, daran, dass Staatsanwaltschaften aufgrund höherer Erfolgschancen oft auf einfacher anzuwendende Straftatbestände ausweichen (zum Beispiel Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz) oder die Opfer aufgrund ihrer Traumata nicht in der Lage sind, auszusagen. Oftmals kommt es erst gar nicht zur Anzeige, also erscheint der Fall auch nicht in der polizeilichen Statistik. Somit ist bei den Zahlen, Menschenhandel und Zwangsprostitution betreffend, höchste Vorsicht geboten.“

350 Betroffene wandten sich an Fachberatungsstellen

Im vergangenen Jahr haben sich nach Informationen des Arbeitskreises „Aktiv gegen Menschenhandel“ allein in Baden-Württemberg 350 Betroffene von Zwangsprostitution an Fachberatungsstellen gewandt.

Text: Priscilla Dekorsi