Hoch hinaus
Mit 18 Jahren kniete sich ein kleiner Junge namens Miguel mit einer Tulpe vor die Fachabiturientin hin und fragte, ob sie seinen großen Bruder kennenlernen möchte. Von da an änderte sich ihr Leben. Nikita, die von ihren Eltern nach einem Elton-John-Song benannt wurde, kam mit Manolito zusammen, einem jungen Mann aus einer Zirkusfamilie – und entschied sich, ihr bürgerliches Leben hinter sich zu lassen. Vor kurzem gastierte die Familie Quaiser wieder in Künzelsau. Dr. Sandra Hartmann hat mit Nikita Quaiser über ihr früheres und jetziges Leben gesprochen.
„Mein Mann ist die Kraft und ich bin der Kopf“
„Mein Mann ist die Kraft und ich bin der Kopf“, so fasst die 27-Jährige die Aufgabenverteilung zwischen ihr und ihrem Mann zusammen. Sie ist unter anderem verantwortlich für Werbung, Pressegespräche für die Zeitung und die Finanzen. Der 29-Jährige hat die wilden Tiere des Zirkusses unter sich – allen voran das Löwenpärchen Massai und Manou. Beide präsentieren im Zirkus auch akrobatische Höchstleistungen. Manolito stemmt etwa 12 weiße Stühle allein mit seinem Mund, Nikita zeigt an der Zirkuszeltdecke akrobatische Stunts in einem Reifen, einem so genannten Lyra-Ring. Nikita gibt aber auch unumwunden mit einem Lachen zu: „Akrobatisch war ich anfangs eine Niete.“ Mit Tiernummern, Tauben und Ziegen, fing sie an. Schließlich wurde sie von einem anderen Familienmitglied, Vanessa, in den Kunst der Ring-Akrobatik zwei Wochen lang intensiv eingelernt. Jeden Tag. Mehrere Stunden. Es ist noch nie etwas passiert, wenn sie direkt unter dem Zirkuszelt ohne Netz ihre Figuren in dem Ring zeigt. Wie viel Meter sie vom Erdboden trennen, weiß sie nicht. In den Proben ist sie hochkonzentriert. Aber bei ihrem Auftritt schaltet Nikita ihren Kopf aus und lauscht nur der Musik, die erklingt, wenn sie die Manege betritt.
„Ich wollte nicht an einem Ort leben“
„Beruflich wollte ich immer etwas mit Tourismus und Reisen machen. Ich wollte nicht an einem Ort leben und das habe ich jetzt alles“, sagt sie und strahlt.
Vor zehn Jahren hat alles begonnen. Der Zirkus der Familie Quaiser gastierte in der Stadt, in der sie als 18-Jährige lebte. Sie begleitete am Abend eine Freundin, die sich in einen jungen Mann – Nikitas jetzigem Schwager Ronny – von eben diesem Zirkus verguckt hatte. Dann trat auf einmal ein kleiner Junge auf Nikita zu, kniete sich vor ihr nieder, streckte ihr eine Tulpe entgegen und sagte: „Hallo schöne Frau. Ich habe einen älteren Bruder. Möchtest du den kennenleren?“
„Ich habe einen älteren Bruder. Möchtest du den kennenleren?“
Es war und ist eigentlich nicht üblich, mit einer so genannten „Privaten“ zusammenzukommen. In der Regel finden „die Reisenden“ untereinander ihre Partner. Mit zwei Ausnahmen in der Familie Quaiser: Vor Manolito hat sich auch sein Papa eine Bürgerliche ausgesucht. Der Seniorchef ist heute über 60 Jahre alt und er hat viele Aufgaben an den Junior Manolito abgegeben. Dennoch „wird noch alles von den Seniorchefs abgesegnet“, betont Nikita. Früher hätten diese – die Schwiegereltern von Nikita – viel schwerer arbeiten müssen beim Zirkus, erzählt Nikita. Es gab keine Hilfsmaschinen beim Aufbau und ohnehin waren sie nur zu Dritt gewesen: Das Seniorchef-Ehepaar und die Mutter des Seniorchefs.
Nun besteht die Zirkusfamilie aus 21 Menschen (12 Erwachsene und neun Kinder) sowie 26 Tieren. Das Zirkuszelt ist mittlerweilse doppelt so groß wie früher. Sie haben Hilfsgeräte für den Auf- und Abbau, wie zum Beispiel einen Traktor und einen Radlader. Manolito und Nikita sind ehrgeizig. Es ist die neunte Generation, die derzeit die Geschicke des Zirkusses leitet und es sollen noch viele folgen. Mit ihren 27 Jahren haben sie schon drei Kinder – eine Fußballmanschaft darf es gerne werden, sagt Nikita lachend.
8 Jahre lang in den Vereinigten Staaten gelebt
Nikita wurde am 04. Januar 1995 in Augsburg geboren. Von ihrem leiblichen Vater spricht sie lediglich als „Erzeuger“. Ihre Mutter und er haben sich kennengelernt, als er als Soldat in Deutschland stationiert war. Als er zurückbeordert wurde in die Vereinigten Staaten, ist die Familie mitgezogen. Acht Jahre lang, bis sie zehn Jahre alt war, hat Nikita in Colorada gelebt. Dann haben sich die Eltern getrennt und Nikita ist mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Geschwistern zurück nach Deutschland. Der Kontakt zum Vater ist heute mehr als dürftig, obwohl die Mutter immer wieder Mails und Fotos geschickt habe. „Er weiß, wie er mich erreichen kann“, sagt Nikita nur. „Papa“ ist für sie der Mann, den ihre Mutter in zweiter Ehe geheiratet hat. Damals war sie 14. Ihre Eltern leben heute in Ulm. Ein- bis zweimal im Monat sehen sie sich, wenn der Zirkus in der Nähe von Ulm gastiert. Ansonsten halten sie Kontakt über WhatsApp und Facetime. Dank der sozialen Medien „ist das heute kein Problem mehr““, sagt sie.
Ihre Kinder sollen einmal die Zirkusgeschäfte weiterführen
Am 14. Februar 2018, mit 23 Jahren, hat Nikita ihren Manolito geheiratet. Ihre Kinder Roberta (7), Guiliana (5) und Scarlett (2) sollen einmal die Zirkusgeschäfte weiterführen. Schon jetzt stehen sie teilweise bereits für kleinere Auftritte auf der Bühne. Dennoch müssen auch sie im richtigen Alter sind, in die Schule gehen. Zirkuskinder haben eine so genannte „Stammschule“, die den Überblick über den aktuellen Wissensstand der Kinder hat, Materialien verschickt und schaut, was in anderen Schulen gemacht wurde, wenn sie utnerwegs waren. im Fall Quaiser ist das die Schule in Kocherstetten. Zusätzlich gibt es nachmittags manchmal Unterricht von Zirkuslehrern, entweder direkt vor Ort oder online. Aktuelle betreut sie hier Frau Wagner aus Öhringen.
„Es war und ist die große Liebe“
„Es war und ist die große Liebe“, sagt Nikita mit Blick auf ihren Manolito. Damals, nach der Tulpenaktion, haben sie sich neun Monate lang täglich gesehen – unabhängig davon, wo der Zirkus stationiert war. „Er ist morgens um 05 Uhr aufgestanden, hat seine Arbeit erledigt, um danach zu mir zu kommen.“ Und Nikita? „Ich habe gewusst, dass mein Platz hier im Zirkus ist.“ Einmal habe Manolito fast einen Autounfall gehabt, weil alles zu viel wurde. Dann war es für Nikita klar, wo für sie die Reise hingehen sollte. Sie brach ihr Fachabi ab, hat ihre Sachen gepackt und ist zu Manolito gezogen. Ihre Mama war nicht begeistert. Bauchschmerzen habe diese vor allem wegen des Wechsels von einem regelmäßigen in ein unbestimmtes Leben bereitet. Für Nikita war „das zwar eine Umstellung, aber es hat gepasst. Ich zeige mich gerne in der Manege, mache gerne meine Arbeite und bin sehr tierverrückt“.
„Jeder hat seine Rückzugsmöglichkeiten“
Unter den Familien gibt es auch mal Meinungsverschiedenheiten, aber diese halten, so Nikita, nicht länger als zehn Minuten an. Ihren Zirkuswagen teilt sie sich mit Manolito und ihren Kindern. Er ist aufgeteilt in ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, einen Wohnbereich und ein Bad. „Jeder hat seine Rückzugsmöglichkeiten. Aber meistens sitzen wir alle zusammen“, mit Musik und Gesang, erzählt sie.
Auch ihre Vierbeiner haben mal Null-Bock-Phasen
Wenn Manolito mit den Löwen auftritt oder probt – und das macht er fast täglich – hat sie keine Angst um ihren Mann. „Man darf niemals Angst haben. Sonst darf man sie nicht halten. Man muss die Tiere lesen und wissen, wie das Tier aufgelegt ist.“ Manchmal gäbe es auch bei Vierbeinern Null-Bock-Phasen. Das Gute: Hinter den Kulissen bringen sie den Tieren viel mehr bei. In der Manege wird dann nur ein Teil abgerufen – so viel, wie das Tier zum Mitmachen an diesem Tag bereit ist.
Prüfungen müssen dafür abgelegt werden. Einmal wöchentlich schaut das örtliche Veterinäramt vorbei. Die Kosten dieser Tierhaltung sind auch nicht zu unterschätzen. Allein das Löwenduo frisst täglich rund 20 Kilo Rindfleisch. Das kostet derzeit rund 17 Euro pro Kilo (340 Euro täglich). Die Inflation macht auch vor der Zirkusfamilie nicht Halt.
Harte Coronajahre mit Auftrittverbot
Auch die Coronajahre waren nicht einfach. Zirkusse durften in dieser Zeit nicht auftreten. So strandete die Familie letzten Endes auf dem Grundstück einer netten Familie in Laßbach am Waldrand. Bauchschmerzen machten sich bei der ansonsten sehr positiv eingestellten Nikita breit, wie es nun weitergehen würde. Die Angst sei da gewesen: Wann hört das Ganze wieder auf? „Die Ungewissheit war das Schlimmste. Da wusste man nicht vor und zurück.“ Irgendwann wsei man fertig mit allen Schönheitsreparaturen und Instandsetzungen und wartete einfach nur noch ab. „Die Zeit zum Überlegen war die schlimmste Zeit gewesen“, erinnert sich Nikita. Es kamen viele Futter- und Kleiderspenden von Anwohner:innen aus dem Hohenlohekreis herein. Das habe sehr geholfen. Zudem haben sie sich vor Supermärkten in der Region positioniert und Nummern aufgeführt, um Geld zu sammeln. Durch die große Not, die sie in dieser Zeit erlebt haben, ist ihr Bedürfnis auch groß, anderen zu helfen, die in Not sind. Insgesamt rund 1.000 Euro Nachlass gab die Familie Quaiser ukrainischen Frauen mit ihren Kindern für eine Vorstellung in ihrem Zirkus in Künzelsau. Der Rest bezuschussten das Landratsamt, das Keltereck und GSCHWÄTZ.
Sehr hilfsbereit
Fast täglich trainieren sie ihre Auftritte. Es soll ja leicht ausschauen für die Zuschauer. Im Winter trainieren sie mehr, weil sie mehr Zeit haben haben und sich auf die neue Saison vorbereiten. Sie hoffen allerdings, dass sie während dieser Zeit in Künzelsau gastieren und einen Winterzirkus präsentieren dürfen.
Vor ihren Auftritten hat Nikita regelmäßig Schmetterlinge im Bauch. Das verfliegt jedoch schnell. Denn „wenn Menschen drin sitzen, die einen anlachen und begeistert sind, ist das einfach ein schönes Gefühl.“
Text: Dr. Sandra Hartmann