„Vergiss nie: Du bist mehr als dein Zeugnis“
Margot Wicharz aus Unterginsbach erinnert sich noch heute, nach über 50 Jahren, an einen Satz aus ihrer Grundschulzeit, der sie stets daran erinnerte, „fleißig, aber langsam“ zu sein. Auch später in der Ausbildung hatte sie stets Angst, zu langsam zu sein. Das berichtete sie uns im Gespräch über ihre Depression (wir berichteten). Ein vermeintlicher harmloser Satz in einem Zeugnis, der dein Sein bestimmt oder schlimmstenfalls eine selbst erfüllende Prophezeihung auslöst. Nach dem Motto: Der Lehrer sieht mich so, also bin ich auch so.
Auch heute noch wird unterschätzt, wie prägend die Fließtext-Beurteilungen für Kinder für ihr weiteres Leben sein können, die sie in der Grundschule in Deutschland erhalten. Besonders natürlich, wenn nicht nur positive Dinge drinstehen. Sätze wie „Antje war stets bemüht“ (siehe Zeugnis unten) erinnern dabei mehr an ein Arbeitszeugnis als an ein Kind, das da schon in relativ jungen Jahren bewertet wird.
„Ihre Merkfähigkeit erstreckt sich nur über eine kurze Zeit“
Das Zeugnis von Paula B. an einer Grund- und Hauptschule von Baden-Württemberg (siehe unten) ist geprägt von Negativformulierungen wie etwa: „Paula hat erhebliche Schwierigkeiten, im Unterricht bei der Sache zu bleiben und sie lenkt sich und andere ab. (…) Ihre Merkfähigkeit erstreckte sich meist nur über eine kurze Zeit. Paula arbeitete besonders bei schriftlichen Arbeiten häufig mit zu wenig Sorgfalt und Einsatzwillen.“
Manche Schulen auch im Hohenlohekreis sind abgerückt von Negativbewertungen und formulieren stattdessen psychologisch sinnvoller. Etwa: „Otis hat die neue Herausforderung, nämlich ein gutes Tempo zu finden, sehr gut aufgenommen“ (siehe Zeugnis unten) anstatt: „Otis war sehr langsam.“
Laut diverser psychologischer Studien unterstützt positives Feedback Kinder, aber Erwachsene erheblich mehr in ihrer Motivation und ihren Leistungen als Kritik. Optimalerweise verpackt daher ein Lehrer Kritik immer als positive „Herausforderung“ für die Zukunft (siehe Schüler Otis). So verharren die Schüler:innen nicht in ihren „Defiziten“, sondern finden optimalereise einen guten Weg, damit umzugehen.
Wieder andere Schulen geben ihren Schüler:innen zusätzlich zu ihrem normalen Zeugnis das „wahre Zeugnis“, wie die Schule in Hilden. Darin steht: „Im letzten Jahr hast du viel gelernt und geschafft. Du bist ein tolles Koalakind und wir sind froh, dich in unserer Klasse zu haben. Vergiss nie: Du bist toll. Du bist einzigartig. Du bist mehr als dein Zeugnis.“

In der DDR ausgestelltes Grundschulzeugnis von Antje Kesting, 1986

Das Zeugnis aus der Grund- Hauptschule Werkt in Baden-Württemberg von Paula B.