„Ich bin der Jens“, stellt sich der Angeklagte Jens Müller* am Donnerstag, den 25. August 2020, kumpelhaft im Verhandlungssaal 2 des Amtsgerichts Öhringen vor. Ihm wird Vergewaltigung in Forchtenberg vorgeworfen (wir berichteten).
„Ich bin der Jens“
„Ich nenne Sie Herr Müller“, entgegnet die Richterin ernst und nimmt die Personalien des Beschuldigten auf. Jens Müller wurde 1953 in Rumänien geboren und lebt seit 1979 in Deutschland. sei. Auf die Frage nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung antwortet er: „Ich kann Ihnen meinen Lebenslauf vorlesen. Es sind drei Seiten – wir haben ja Zeit.“ Er habe „22 Jahre Schule gemacht“ und besteht darauf, seine Berufserfahrung im Detail auszuführen. Mit seiner beigen Hose, seinem gestreiften Poloshirt und den weißen kurzgeschnittenen Haaren sieht der 69-Jährige aus, wie ein ganz normaler Rentner. So einen, wie man ihn bei einem Senioren-Tanzabend oder beim Bingo-Spielen antreffen könnte. Doch stattdessen wird ihm vorgeworfen, in Forchtenberg in seiner Wohnung in der Nähe des Sägewerks und in seiner Schusterei, Ende der 1990er Jahre zwei jugendliche Mädchen eingesperrt, bedroht, vergewaltigt, geknebelt und geschlagen zu haben. Von 1998 bis 2000 betrieb W. ein Geschäft für Schuhreparaturen in Forchtenberg. Zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat, 1998, war W., aufgrund eines Radunfalls 1981, zu 100% schwerbehindert.
Zu 100 Prozent schwer behindert
Anfangs wirkt der Angeklagte noch selbstbewusst, reißt Witze und redet dazwischen. Nach der ersten Aussage einer der mutmaßlich Geschädigten, Ina Peters, ist der Angeklagte sichtlich in sich zusammengesunken, blickt mit leeren Augen in den Saal.
22 Jahre nach der Vergewaltigung Anklage erhoben
Ina Peters und Marta Wintermann waren Freundinnen. Als Ina Peters Marta Wintermann 2020, 22 Jahre nach der vermeintlichen Vergewaltigung, anruft, um sie davon zu überzeugen, sich der Klage gegen den Jens Müller anzuschließen, protestiert diese. „Sie wollte im Nachgang da nicht mit reingezogen werde und habe Streit mit ihrem Mann gehabt, weil Ina Peters sie deswegen kontaktiert und die Anzeige gestellt hat. Das sollte nicht publik werden“, erzählt Fr. B., die Familienhelferin der Familie von Ina Peters, vor Gericht.
Die Schilderung der Ina Peters nach Polizeiprotokoll ist folgende:
Forchtenberg, 1998. Ein bis zwei Wochen vor den Sommerferien. Die 15-Jährige Zeugin Ina Peters habe Schuhe in der Schusterei des Jens Müller abholen wollen. Auf einmal habe der Angeklagte die Jugendliche gegen ihren Willen umarmt, die Tür geschlossen und sie in einen Nebenraum gedrängt. Dieser sei halb unter der Erde gelegen, es habe somit keine ebenerdigen Fenster gegeben – nur Lichtschächte, durch die spärlich Licht in den engen Raum gedrungen sei. Jens Müller habe Ina Peters auf ein Sofa gedrückt, ihren Wickelrock hochgeschoben und ihr die Unterhose vom Leib gerissen. Er habe die Knöpfe seiner Latzhose geöffnet, seine Unterhose herunter gestriffen und sein Glied in die Scheide der Geschädigten eingeführt. Anschließend habe er seine Vergewaltigung ungeschützt bis zum Samenerguss fortgeführt. Die Geschädigte habe Risse und Blutungen an der Scheide erlitten. Zurück im Verkaufsraum, habe sie es geschafft, den Beschuldigten durch einen Tritt in die Genitalien für einen Moment außer Gefecht zu setzen und ihm die Schlüssel zu entnehmen. Anschließend sei ihr die Flucht durch die Ladentür gelungen.
Die Schilderung der Marta Wintermann nach Polizeiprotokoll ist folgende:
Forchtenberg 1998. Die mutmaßlich Geschädigte ist damals 16 Jahre alt.
Der erste Übergriff: Der damals 45-jährige Jens Müller habe die Familie der Marta Wintermann gekannt und diese Tatsache für seine Zwecke ausgenutzt. Er habe ihr mehrfach gedroht, ihre Familienangehörigen zu vergewaltigen und zu überfahren, um sie dazu zu bewegen, in seine Wohnung zu kommen. S. sei aus Angst, er mache seine Drohungen wahr, auf seine Forderungen eingegangen und sei tatsächlich in seiner Eineinhalb-Zimmer-Wohnung erschienen. Der Angeklagte habe Marta Wintermann mit den Worten empfangen, dass es „ja toll sei, dass sie zu ihm gekommen sei, da er so niemandem außer ihr weh tun müsse“. In den Räumlichkeiten von Jens Müller sei sie seinem Zugriff schutzlos ausgeliefert gewesen. Er habe sie auf seinem Bett in eine liegende Stellung gezwungen und ihr die Hose heruntergerissen. Anschließend habe er ungeschützten Geschlechtsverkehr mit ihr praktiziert und ihr den Mund mit den Worten zugehalten: „Halt still, dann ist es gleich vorbei.“
Der zweite Übergriff
Der zweite Übergriff: Der Angeklagte habe Marta Wintermann in Forchtenberg abgepasst und sie mit der Drohung in sein Auto gedrängt, dass er „wisse, wo ihre Oma und ihr Opa wohnen.“ Eingeschüchtert sei sie seiner Aufforderung und ihm so in seine Wohnung im Bereich des Sägewerks gefolgt. Dort habe er ihr alle Räume gezeigt und behauptet, „dass sie nun für deren Reinlichkeit zu sorgen habe, da er in Trennung lebe.“ Jens Müller habe sie ins Schlafzimmer gezogen. Es sei ihr unmöglich gewesen, zu fliehen. Er habe sie geschlagen, mit einem Tuch geknebelt und ihr gesagt, „dass sie schreien könne, so viel sie wolle. Tagsüber sei sowieso niemand im Haus.“ Jens Müller habe der Geschädigten die Arme über den Kopf gerissen und ungeschützten Geschlechtsverkeht bis zum Samenerguss mit ihr gehabt. Anschließend habe die 16-Jährige sich waschen müssen. Danach habe er der Geschädigten erlaubt, zu gehen.
Danach habe er der Geschädigten erlaubt, zu gehen
„Diese Vorwürfe sind als nichtig anzusehen“, verteidigt sich der Angeklagte. „Das sprengt den Rahmen eines normal denkenden Menschen. Es stimmt einfach nicht.“
„Ich war ein guter Freund der Familie“
Zum Fall Ina Peters erklärt Jrns Müller: „Ich war ein guter Freund ihrer Mutter und Tante. Ich habe mich gefühlt, als ob ich zu der Familie gehören würde. Ich war wirklich bei der Familie wie daheim, es war wie meine zweite Familie. Mit der Mutter und der Tante hatte ich täglich Kontakt. Ich habe Ina Peters vielleicht in der Ortschaft mal gesehen. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht ein oder zwei Mal im Laden drin war. Vielleicht mit der Marta. Da hat die Marta glaube ich etwas abgeholt. Ich weiß es nicht mehr. Sonst habe ich sie nie gesehen. Ich habe ein Problem damit, mir diese Frau überhaupt bildlich vorzustellen.“
„schulmäßig unterstützt“
Marta Wintermann habe der Angeklagte „schulmäßig unterstützt“. Er habe auch Kontakt mit deren Mutter und Tante gehabt. „Die Großeltern habe ich öfters auf dem Weg gesehen. Das sind sehr nette und liebe Menschen. Marta ist öfter in den Laden gekommen. Sie hatte Probleme in der Schule und ich habe ihr bei ihren Matheaufgaben geholfen. Manchmal bat sie mich auch um kleinere Reparaturen. Da ging es dann mal um eine Halskette oder so. Soweit es möglich war, habe ich ihr ständig bei den Schulaufgaben geholfen. Sie war faul oder bequem in der Hinsicht.
Durch Zufall kam es dazu“, erläutert der dreifache Vater Jens Müller.
„Die Mutter war nicht so begabt“
Jens Müller führt weiter aus: „Die Mutter der Maria war nicht so begabt, als dass sie ihrer Tochter bei den Schulaufgaben helfen könnte. Wie ich vorher schon erwähnte: Ich habe ja viele, viele Schuljahre hinter mir. Mit Marta Vati habe ich auch schon gesprochen. Er hat die Marta öfter gesucht. Er war der deutschen Sprache sehr, sehr schlecht mächtig. Manchmal, wenn er sie nicht gefunden hat, dann hat er bei mir gesucht. Sie ist öfter einmal untergetaucht und hat sich versteckt.“
Das Mädchen sollte daraufhin abgeschoben werden
„1999“ sei Marta Wintermann „nach Pakistan abgeschoben“ worden, so Jens Müller. „Sie war sogar mal mit mir zusammen bei der Polizei in Öhringen und hat um Hilfe gebeten. Da hat der Polizeibeamte gesagt: ‚Es tut mir leid, da sind die Sitten so, da können wir nichts machen.‘ Da habe ich gesagt: ‚Halt mal, die ist doch hier geboren‘. Die Oma, die Mutti von ihrem Papa, war dort. Der Papa ist aus Pakistan, die Mutter aus Forchtenberg. Sie sollte dorthin zwangsverheiratet werden. Ein konkreter Auslöser ist mir nicht bekannt. Als Marta noch klein war, wurde ausgehandelt, dass sie mit einem gewissen Alter ihren jetzigen Mann heiraten wird.“ Wie sich im Laufe der Verhandlung ergibt, sei Marta Wintermann nach Pakistan geschickt worden, nachdem der Vater einen an Jens Müller adressierten Liebesbrief bei ihr gefunden habe.
Jens Müller beharrt auf seiner Version der einvernehmlichen Beziehung und des freiwilligen Geschlechtsverkehrs:
Jens Müller beharrt auf seiner Version der einvernehmlichen Beziehung und des freiwilligen Geschlechtsverkehrs: „Ich war nur in kurzer Hose. Dann ist sie gekommen. Sie kam oft vor der Schule wegen Matheaufgaben zu mir Nachhause. Sie hat angefangen mich an den Beinen zu streicheln und dann ist es halt passiert.“
Vor dem Samenerguss abgebrochen
Auf die Frage der Richterin, ob der damals 45-Jährige beim Geschlechtsverkehr mit der Schülerinn verhütet habe, antwortet dieser: „Ich selber habe immer aufgepasst, dass nichts passiert. Vor dem Samenerguss abgebrochen. Ich denke schon, dass das hilft. Ich bin aufgewachsen in einem Land, wo es keine Verhütungsmittel gab, da musste man so verhüten.“
„Ich weiß es nicht mehr“
Der Oberstaatsanwalt hakt weiter nach: „Sie als 45-Jähriger haben erkannt dass die 16-Jährige wohl was von ihnen wollen würde, weil sie mit ihrer Hand zufällig oder absichtlich Ihren Oberschenkel berührt hat? Wer hat also wen ins Schlafzimmer gebracht. Wer ist vorausgelaufen? Sie oder Marta? Und dann? Dann sitzen sie also auf diesem Schlafzimmerbett, die Marta sitzt neben oder vor Ihnen und greift Ihnen zufällig an den Oberschenkel. Wie kam es dann zum Geschlechtsverkehr? Haben Sie die Marta ausgezogen oder hat sie sich selbst ausgezogen? Was hatte denn die Marta an? Hat Sie die Maria zu sich gezogen oder haben Sie sich auf die Marta draufgelegt? Bevor es zum Eindringen kam und nachdem sie ihnen auf den Oberschenkel gegriffen hat, haben sie sich da geküsst? Haben sie sich überhaupt mal geküsst? Gab es auch Zungenküsse?“
„Ich weiß es nicht mehr“, sagt Jens Müller.
„Marta sagte: ‚Ich wurde bedroht. Ich musste das tun, was er wollte sonst würde er meiner Familie etwas antun und auch meinen Freunden’“, zitiert der Staatsanwalt aus der polizeilichen Vernehmung.
„Das ist eine Lüge“, entgegnet Jens Müller.
„Er hat mir die Hose heruntergezogen, sein Geschlechtsteil entblößt und ist dann direkt in mich eingedrungen“
„Den ersten Geschlechtsverkehr beschrieb Marta folgendermaßen“, liest der Staatsanwalt vor: „‚Er hat mich vorher nicht berührt. Er hat mir die Hose heruntergezogen, sein Geschlechtsteil entblößt und ist dann direkt in mich eingedrungen. Ich hatte sehr starke Schmerzen im Unterleib, im Scheidenbereich und auch in den Beinen wegen dem Auseinanderdrücken.’“ Weiter fragt der Jurist: „Beim ersten Geschlechtsverkehr – ist die Marta dann anschließend in die Schule gegangen?“ Jens Müller antwortet: „Normal schon. Ich habe sie nicht die Schule schwänzen lassen. Ja.“
„Er hat mich vin hinten gepackt und am Nacken ins Schlafzimmer gezogen“
„Marta sagt am Tag nach dem Geschlechtsverkehr hätte es einen weiteren Vorfall gegeben. Sie hätten ihr an der Bushaltestelle „aufgelauert“ und ihr gesagt, sie wisse, wo sie hinkommen solle nach der Schule: nämlich in die Werkstatt. Ich zitiere aus dem Vernehmungsprotokoll: ‚Er hat mir dann gesagt dass er weiß, dass meine Schwester noch in der Schule ist und dass er weiß, was sie an diesem Tag anhatte. Er kannte auch die Namen von den Freunden, von denen er wusste, dass sie sie regelmäßig besucht. Ich wusste dann genau, dass ich tun musste, was er sagt, weil er ernst machen würde.’ ‚Er hat mich von hinten gepackt und am Nacken ins Schlafzimmer geschoben. Das heißt, er hat mich an einer Hand am Nacken gepackt und mich mit der anderen Hand ins Schlafzimmer geschoben. Er hat wieder mir und ihm die Hose heruntergezogen. Ich habe dann angefangen zu schreien und er hat mir eine runtergehauen und mir dann meinen Mund mit einem Tuch zugebunden.’“
Vernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Die Vernehmung der mutmaßlichen Opfer Ina und Marta findet aufgrund des Opferschutzes unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, da beide Zeuginnen zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt noch minderjährig waren.
Danach wird die Tante von Ina verhört, die behauptet, Ina hätte den Vorfall nur erfunden und nur aus Sicht von Marta berichtet, dass es passiert sei. Sie wisse nichts davon.
Die nächste Zeugin ist die Familienhelferin der Ina, Frau B.. Diese erinnert sich: „Wir hatten ganz normal Besuchskontakt. Wir haben uns über Geschehnisse generell unterhalten und irgendwann sagte sie Ina dann, dass es einen Übergriff auf sie gegeben habe. Sie sagte, dass das in Forchtenberg bei einem Schuhmacher gewesen sei. (…) Ich habe ihr angeboten, mich zu informieren, ob da noch etwas zu machen ist. Sie hat ein paar Tage darüber nachgedacht, ob sie eine Aussage machen will. Dann sind wir zur Polizei gegangen. Details habe ich erst in der Vernehmung richtig gehört.“
Ein ominöser Liebesbrief
Auch die Polizeihauptkommissarin Fr. T., die mit den Ermittlungen in dieser Sache beauftragt war, tätigt eine Aussage: „Ich habe mit Ina telefoniert. Am Telefon war sie sehr aufgewühlt Sie habe jahrelang gebraucht, um die Sache zu verarbeiten. Der ganze Familienfrieden sei damals den Bach runtergegangen. Vom Vater sei sie nach dem Vorfall (mit Jens Müller) nach Pakistan geschickt worden. Sie hat sich schließlich sehr ungern auf die Vernehmung eingelassen.“ Durch Vernehmungen von Zeugen sei Marta erst ins Spiel gebracht worden. „Sie (Marta) konnte zwei Fälle (zwei Missbrauchsfälle) präzise beschreiben. Es sei aber zu weitaus mehr Fällen gekommen. Im direkten Anschluss habe ihre Familie von der Geschichte etwas mitbekommen. Es gab einen ominösen Liebesbrief. Der W. Habe sie gezwungen, den zu verfassen. Der Vater habe den Brief gefunden und sie daraufhin nach Pakistan gebracht. Sie meinte, sie sei gezwungen worden, den zu schreiben. Sie gab aber keine Erklärung, warum der Liebesbrief bei ihr war.“
Zwei Missbrauchsfälle konnte sie präzise beschreiben
Die Richterin geht in ihrer Urteilsbegründung auf diesen Liebesbrief ein: „Wir haben diese Geschichte mit diesem Liebesbrief, was für mich auch irgendwie seltsam ist. Wenn er sie dazu gezwungen hat, den zu schreiben, warum ist dann der Liebesbrief bei Marta und nicht bei Herrn Müller, damit er ihn als Beweismittel in den Händen hat?“
Eine der Zeuginnen ließ sich befragen von der Gutachterin
Schließlich wird die Gutachterin, Fr. D.-H. zur Glaubhaftigkeit der Aussagen der Zeuginnen befragt. „Ich habe beide Zeuginnen angeschrieben. Mit Ina Ist ein Gespräch zustande gekommen.“, erklärt die Diplompsychologin, „Marta war nicht bereit, sich begutachten zu lassen, da das ganze schon sehr lange zurückliege und sie mit der Sache nichts mehr zu tun haben wolle.“ „Grundlage der Begutachtung“ sei „die Frage der Aussagetüchtigkeit, die Frage, wie man diese Zeugenaussage aus aussagepsychologischer Sicht einzuschätzen hat. Außerdem die Frage der Glaubhaftigkeit der Aussagen. Es geht darum, Hypothesen zu generieren, wie man diese Aussage auch anders betrachten kann, als wie von der Zeugin dargestellt.“
Hat sie sich eingebildet, das selbst erlebt zu haben?
Die Gutachterin resümiert: „Nach dem jetzigen Stand kann ich aus aussagepsychologischer Sicht nicht widerlegen, dass Ina etwas gehört hat von Marta und es verarbeitet hat, dadurch, dass sie sich eingebildet hat, das selbst erlebt zu haben. Bei jeder Befragung besteht auch die Gefahr, dass Aussagen verfälscht werden oder auch Aussagefragmente generiert werden. Je länger die Erinnerungen zurückliegen und je verschwommener diese Erinnerungen sind, umso mehr greift das Gedächtnis auch nach Strohhalmen, die angeboten werden. Je länger etwas zurückliegt, umso größeres Irrtumspotential ist in dem, was berichtet wird.
Viele persönliche Schicksalsschläge
Von Ina haben wir zu unterschiedlichen Befragungszeitpunkten unterschiedliche Berichte bekommen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie in der Rückschau Quellen verwechselt und berichtete Erlebnisse als selbst erfahren wiedergibt. Es geht hier nicht um die Frage einer willentlichen Falschaussage, sondern es geht um die Frage, dass sie das möglicherweise nicht auseinanderhalten kann und meint, dass das so war. (…) Es lässt sich die Hypothese nicht von der Hand weisen, dass sie schon von Marta zu einem sehr frühen Zeitpunkt berichtet bekommen habe, was sie erlebt habe, und dann, nach vielen persönlichen Schicksalsschlägen, sie zu der Überzeugung gekommen ist, dass sie dieses auch selbst erlebt hat.
Ohne ihr Zutun da reingerutscht
Marta ist sozusagen völlig ohne ihr Zutun und, so wie ich das mitbekommen habe, ohne ihren Willen in das Verfahren hineingerutscht. Auch die Anzeige hat Ina ohne ihr Zutun geschalten. Sie war schon damals, als die Polizei sie befragtet, nicht aussagefreudig. Auch heute hat sie wiederholt geäußert, dass sie am liebsten ihre Ruhe haben will und mit der Sache nichts zu tun haben will. Auf der anderen Seite muss man also sehen, dass sie zwangsweise in diese Situation geraten ist. Wenn sie jetzt gezwungen ist, sich an Dinge zu erinnern, die 20 Jahre zurückliegen, kann man nicht davon ausgehen, dass eine schonungslose Offenheit vorliegt. Aus aussagepsychologischer Sicht sind deshalb subjektive Verfärbungen nicht auszuschließen. Aus aussagepsychologischer Sicht sehe ich keine Handhabe, das, was sie dazu gesagt hat, so dagegenzustellen, dass ich ausschließen kann, dass ihre Aussage durch subjektive Aspekte nicht so verzerrt ist, dass es so ist, wie sie es sehen möchte und heute darstellt. Es geht nicht darum, zu sagen, das stimmt nicht. Nur darum zu sagen, dass die Möglichkeit besteht, dass beide Zeugenaussagen nach dieser langen Zeit subjektiven Verfälschungen unterliegen.“ Im Fall von Marta gehe es darum, dass die „Frage der Freiwilligkeit im Laufe der Jahre anders interpretiert werden könnte. Es heißt nicht, dass es nicht stimmt. Ich kann es nur nicht anders widerlegen.“
Im Zweifel für den Angeklagten
Nach den Schlussplädoyers, die ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, verkündet das Gericht das Urteil: Freispruch. „In dubio pro reo“, wie die Richterin erklärt. „Es ist nicht unsere Aufgabe zu beurteilen, was ist moralisch richtig und korrekt ist, sondern zu beurteilen, ob ein Verhalten strafbar ist, oder nicht. Die Frage, die sich uns stellt, ist also: Was können wir nachweisen? Keiner geht heute hier davon aus, dass Ina oder Marta eine willentliche Falschaussage getätigt haben. Überhaupt gar nicht. Aber es gibt eben auch eine unwillentliche Falschaussage und das können wir nicht widerlegen. (…) Letztlich bleibt heute von dem, was hier heute geschildert wurde, nicht mehr so viel übrig, als dass man eine Verurteilung darauf stützen könnte. Es reicht im Endeffekt nicht aus, um die Nullhypothese zu widerlegen. So sprechen wir den Angeklagten, in dubio pro reo, frei.“
Text: Priscilla Dekorsi
*Die Namen wurden von der Redaktion geändert