Geht man auf die Internetseite von Alea Horst aus Reckenroth, das zwischen Koblenz und Frankfurt liegt, lacht einen eine dunkelhaarige Frau aus einem Cockpit eines Segelflugzeuges an. Die Hochzeitsfotografin macht aber nicht nur Bilder von den schönsten Momenten im Leben, sondern auch von weniger schönen, teilweise entsetzlich bedrückenden Szenen. Für SOS-Kinderdörfer Sri Lanka war Horst etwa am Hafen von Bangladesch und fotografierte Kinder bei der Arbeit. Dort werden Schiffsschrauben gefertigt und Schiffe zurückgebaut, um Rohstoffe zu gewinnen.
„Dieses Projekt ist eines der emotionalisten, welches ich bisher fotografiert habe“
„Dieses Projekt ist eines der emotionalsten, welches ich bisher je fotografiert habe. In Bangladesch ist Kinderarbeit an der Tagesordnung“, schreibt Horst auf ihrer Homepage. Sie hat dort Kinder fotografiert, die mit dreckigen nackten Füßen, in einem Schiffsrumpf arbeiten, wie sie schweißen und hämmern. Es sind eigentlich unfassbare Fotos im 21. Jahrhundert.
Kleinkind in Bangladesh. Foto: Alea Horst
Weniger schöne, teilweise entsetzlich bedrückende Szenen
Alea Horst hat schon viel gesehen auf der Welt. Die 40-Jährige war in Syrien, Äthiopien, Jordanien und auch in Griechenland. Achtmal allein war sie in Lesbos. Allerdings nicht zum urlauben. Sie hat dort Kinder begleitet, unterstützt und fotografiert, die aus Syrien und anderen Ländern geflohen sind und nun in einem Auffanglager teilweise jahrelang verharren müssen. Entstanden ist daraus ein Buch mit dem Titel:
„Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder.“

Zainab (12 Jahre, rechts) mit ihrer Freundin Nida. Sie lernten sich nach ihrer Flucht kennen und leben im Containerlager Kara Tepe. Foto: Alea Horst
Zainab: „Das Wichtigste in einer Freundschaft ist es, sich gegenseitig zu helfen und sich gegenseitig zu respektieren. In Nidas Familie gibt es nur eine Wärmflasche. Die bekommt dann immer ihr Bruder, wenn es nachts zu kalt ist. […] Wenn ich groß bin, möchte ich Ärztin werden, weil mein Papa ein Herzproblem hat. […] Ein perfekter Tag hätte nichts mit Warten zu tun. Es gäbe keine Fragen wie: Warum sind wir noch hier? Wann geht es weiter? Wir wären einfach angekommen.“
Dr. Sandra Hartmann hat mir der Fotografin über die Kraft der Bilder gesprochen und die Kraft dieser Kinder in den Lagern.

Alea Horst im Zataari Camp in Jordanien. Foto: privat
GSCHWÄTZ: Wie oft waren Sie in den Flüchtlingslagern, allen voran Moria auf der griechischen Insel Lesbos, in den vergangenen Jahren?
Horst: „Achtmal bin ich vor Ort gewesen. Die Interviews in dem Buch sind letztes Jahr im Februar 2022 entstanden. Das erste Mal war ich im Januar 2016 dort, dann ab 2020 wieder häufiger. Dazwischen war ich für Hilfsorganisationen in Jordanien, Syrien und Äthiopien. Die Fotos werden von den Organisationen für Spenden verwendet.

Die Schwestern Asra (9 Jahre, links) und Tabasom (6 Jahre) kommen aus Afghanistan und leben im Containerlager in Kara Tepe auf der Insel Lesbos. Foto: Alea Horst
GSCHWÄTZ: Sie haben aber nicht nur fotografiert vor Ort.
Horst: Oft packe ich auch selbst mit an. In Lesbos habe ich sehr viel mit angepackt. Aber es sind immer ganz unterschiedliche Aufgaben, die einen erwarten. 2016 habe ich beispielsweise Nothilfe am Strand geleistet, 2020 habe ich Lebensmittel und Kleidung besorgt, Spenden aus Deutschland organisiert oder Kranke zum Arzt gefahren.
GSCHWÄTZ: Sie leisten hauptsächlich ehrenamtlich Hilfe. Wie finanziert man das als Privatperson?
Horst: Die meisten Einsätze freiwillig und ehrenamtlich. Ich habe das von meinen Rücklagen und meinem Ersparten bezahlt. Mittlerweile bin ich aber so bekannt, dass Organisationen kommen und Bilder abkaufen, aber das steht in keinem Verhältnis, was ich an Ausgaben habe.

Sie haben ein Fotobuch herausgebracht über Kinder in den Flüchtlingslagern auf Lesbos, allen voran aus dem bekanntesten Lager namens Moria, das es mittlerweile nach einem großen Brand nicht mehr gibt. Welches Foto hat Sie dabei am meisten bewegt?
Horst: Das Foto, das mich am meisten bewegt hat, ist ein Junge, der sich nach dem Feuer in Moria auf den Boden gelegt hat, weil es die Verzweiflung und die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein der Kinder darstellt. Hinter ihm sieht man Schatten von Erwachsenen. Es zeigt, wie erschöpft und traumatisiert die Kinder sind und das andere bestimmen, andere Schatten über ihr Leben bestimmen.

Mohammad Martin (13 Jahre) ist allein mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester aus Aghanistan geflohen, wohnte erst im alten Moria Camp, jetzt im Zeltlager Kara Tepe. Foto: Alea Horst
Mohammad Martin: „Meine Familie und ich kommen aus Afghanistan. Aber dort kann ich nicht leben. Deshalb mussten wir hierherkommen. Wir haben uns das nicht wirklich ausgesucht. Der Weg hierher nach Lesbos hat mir viel Angst gemacht. Einmal habe ich meine Mama verloren an der türkischen Grenze. Ich habe überall nach ihr gesucht. Das war schrecklich. Ich habe keinen Papa. Wir sind nur mit meiner Mama hergekommen. Wenn man die dann verliert, das ist ganz schlimm. Die Flucht ohne Vater ist viel gefährlicher und schwieriger […] Moria ist ein schlimmer Ort. Jede Nacht gab es Krieg dort. […] Auch hier im neuen Lager sind wir schon ausgeraubt worden. Sie kommen nachts in die Zelte und klauen einfach alles, vor allem die Handys und das bisschen Geld.“
GSCHWÄTZ: Haben Sie selbst Kinder?
Horst: Ich habe zwei Kinder im Aller von 21 und 22 Jahren. Meine Tochter war mit mir schon einmal in Moria und hat dort zwei Monate als Englisch- und Deutschlehrerin gearbeitet.
GSCHWÄTZ: Wie nah kommt man den Kindern in den Lagern?
Horst: Ich arbeite viel mit Kindern, auch in anderen Ländern. Es dauert in der Regel nicht lange, dass man sich mit Kindern anfreunden kann, weil sie so ein Urvertrauen haben. Bei mir geht es immer schnell. Die spüren auch, wenn man es gut mit ihnen meint, wenn man versucht, Situationen nur ein kleines bisschen besser versucht zu machen. Sie erzählen, was sie für Sorgen machen, um ihre Mütter zum Beispiel. Wenn Sie spüren: Ich bin nicht irgendein Journalist, sondern ich bin wirklich interessiert an ihrer Geschichte.

Qutbuddin (8 Jahre) aus Afghanistan lebt mit seinen drei Brüdern, seiner Schwester Samira und seinen Eltern im Lager Kara Tepe. Foto: Alea Horst
Qudbuddin: „Im Zelt gibt es keinen Tisch und keine Stühle oder Betten. Es ist einfach nur Boden. […] Ich habe immer wieder Albträume. Die größte Angst ist dann, dass der Regen in unser Zelt kommt und das Zelt kaputtgeht oder wegfliegt. […] Ich träume dann, dass wir wieder auf der Straße sind, wie damals nach dem Feuer [Anm. d. Red.: im Lager von Moria] oder als wir in der Türkei aus dem Gefängnis gekommen sind. Oder ich träume, dass wir ins Meer treiben und untergehen, weil unser Zelt so nah am Wasser steht. Irgendwann möchte ich in einem echten Zuhause wohnen.“
GSCHWÄTZ: Wie traumatisiert sind die Kinder?
Horst: Ich hatte ein Gespräch mit der Kinderpsychologin von Ärzte ohne Grenzen. Manche Kinder haben ständige Angst vor Alpträumen. Sie träumen, was sie im Herkunftsland erlebt haben, von ihrer Flucht, von ihrem Leben im Lager, von Vergewaltigungen. Sie sind retraumatisiert, ruhelos, rastlos. Ein Mädchen sagte mir: „Ich würde gerne mal eine Woche an einem ruhigen Ort sein, schlafen und alles vergessen.“ Sie sehnen sich nach einem Fels, nach einem Zuhause. Nach einem sicheren Ort.

Tajala (10 Jahre) aus Afghanistan lebte mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern vor dem Brand im alten Moria, zwischenzeitlich auf der Straße und jetzt im Zeltlager Kara Tepe. Foto: Alea Horst
„Ich habe noch Erinnerungen an das alte Moria. Erst hatten wir ein Iglu-Zelt. Das war natürlich für uns alle zu klein. Dann hat mein Papa angefangen, aus aus Holz und Plastikplanen eine Zelthütte zu bauen. Dann hatten wir mehr Platz. Aber dann kam das Fuer und alles ist verbrannt. Wir haben alles verloren. Wir waren dann 10 Tage auf der Straße. Wir konnten nirgendwohin, sondern mussten auf dem Bürgersteig bleiben. Die Polizei stand am Anfang und am Ende der Straße und hat den Weg versperrt. Die Polizei hat dann auch noch Tränengas geschossen. Das waren wirklich sehr schlechte Tage, und es war schwer für uns. Ihr müsst euch das so vorstellen: Wir hatten nicht genug zu essen. Wir hatten ja nicht mal Decken. Wir haben auf Pappe geschlafen, die wir irgendwo gefunden haben. Es gab nicht mal Wasser. Ich habe gedacht, dass uns die Polizei vielleicht etwas zu essen gibt, aber stattdessen kam das Tränengas.“
GSCHWÄTZ: Wie macht sich diese Retraumatisierung konkret bemerkbar?
Horst: Es gibt starke Verhaltensauffälligkeiten. Eine Junge sagte mir: „Ich weiß nicht mehr, wie spielen geht.“ Die Kinderpsychologin berichtet, dass Kinder auf einmal nicht mehr laufen können oder sie verletzen andere Kinder stark. Auf diesen Kindern liegt ein wahnsinniger Druck, die Familie hat das Land verlassen. Wir sind zu alt, um in einem neuen Land nochmal voll durchstarten zu können, aber du wirst das schaffen und du wirst das Geld für uns verdienen, um uns mitzufinanzieren. Die ganze Hoffnung der Familie ruht auf ihren Schultern. Ein Mädchen sagte: „Der Traum von einem guten Leben ist für mich vorbei“, weil sie so lange nicht zur Schule gegangen ist.

Fares (11 Jahre) lebt mit seinen vier Brüdern und Schwestern, seiner Mutter, seinem Vater sowie dessen Zweitfrau und Baby in einem Zelt im Zeltlager Kara Tepe. Foto: Alea Horst
Fares: „Alles hat angefangen, sagt mein Papa, als ich neun Jahre alt war. Da ist eine Bombe auf das Nachbarhaus gefallen. Mein Freund ist dort gestorben. Seitdem habe ich diese Schwierigkeiten mit den Gedanken. Ich habe keine Erinnerungen mehr, an nichts mehr. Ich kann mich nicht an Syrien erinnern und auch nicht an den Weg hierher. Es ist nichts mehr da. Morgens weckt mich meine Mama. Sie sagt immer, ich soll rausgehen, spielen. Aber ich kann nicht mehr spielen. Ich weiß nicht mehr, wie das geht.“
Was wäre ihr größter Traum?
Horst: Ich würde mir eine sofortige Auflösung der Lager wünschen. Die Menschen müssen evakuiert und sicher verteilt werden. Wir züchten dort Kriminalität. Ständige Retraumatisierung führt zu einem Verlust des Urvertrauens. Diese Menschen vertrauen anderen Menschen irgendwann nicht mehr. Wir entscheiden dass, das die Menschen dort kaputt gehen. In Afghanistan und im Irak droht den Menschen der Tod, aber überall anders werden sie teilweise auch verprügelt, haben die Krätze, werden von Ratten angefressen. Also lautet die Devise: Entweder lasse ich mich ausrauben oder raube selber aus. Die Menschen bekommen 70 Euro pro Person in einem Flüchtlingslager pro Monat in Griechenland. Es herrscht dort eine wahnsinnige Behördenwillkür. Ohne Rechtsbeistand sind die Chancen gleich Null, dass man einen positiven Asylbescheid bekommt.

Adonai (12 Jahre) aus dem Kongo lebt mit seinen Schwestern und seinen Eltern im Zeltlager Kara Tepe. Sein Bruder, von dem Adonai spricht, ist nicht mit im Camp. Foto: Alea Horst
Adonai: „Ich würde gerne etwas lernen. Aber ich gehe nicht zur Schule. Nicht eine Stunde Unterricht habe ich. Dabei möchte ich gerne etwas lernen. Mein Problem ist, dass ich ja älter werde. Die Zeit vergeht. Seit so langer Zeit bin ich jetzt hier und lerne nichts. Wie soll ich das alles irgendwann nachholen? Ich habe kein Wissen. […] Am meisten leide ich, wenn ich ohne Essen ins Bett gehe.“
Sie fahren, während wir telefonieren, zu ihrer nächsten Lesung.
Horst: Jetzt geht es nach Dresden, ich lese dort vor Schulklassen, von der vierten bis zur siebten. Und ich bekomme dabei immer viele Fragen gestellt. Krieg und Verfolgung ist oft ein Tabuthema zu Hause. Die Kinder wollen wissen, wie das ist, wenn man Angst hat, Angst um sein Leben. Sie sind total begeistert, wenn sie mit mir darüber sprechen können, wie es in einem Flüchtlingslager aussieht. Kinder verfallen dann nicht in eine lähmende Hilflosigkeit, wie es oft bei Erwachsenen der Fall ist, sondern bringen Ideen ein, wie sie helfen könnten, etwa mit Waffeln backen, verkaufen und das Geld dann spenden. Kinder haben immer tolle Ideen für Frieden und ein besseres Miteinander.
Zum ersten Mal seine Geschichte erzählt
Es sind viele Kinder mit Fluchterfahrung in den Klassen. Das hat ihnen sehr geholfen, sich zu öffnen. Ihre schreckliche Vergangenheit auch anerkannt zu bekommen. Ein syrischer Junge hat davon erzählt, wie man auf sein Boot geschossen hat und wie er in der Türkei seine Mama verloren hat. Seine Schulkameraden haben ganz gespannt zugehört, wie er zum ersten Mal seine Geschichte erzählt hat.
Verein
Hilfsprojeke, Bildung, Zukunftsbau: Alea Horst hat einen Verein gegründet mit dem Namen Alea e.V.
Der Verein steht für soziale Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Respekt, Gemeinschaft, Würde und Frieden. Damit werden unter anderem soziale internationale Projekt unterstützt. Der Verein freut sich über Spenden.
Das im März 2022 erschienene Buch: „Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder“ von Alea Horst und Mehrdad Zaeri ist beim Klett Kinderbuchverlag erschienen. Für 16 Euro kann man es überall kaufen, unter anderem bei Amazon: https://www.amazon.de/Manchmal-male-ich-ein-Haus/dp/3954702630
Buchcover: „Manchmal male ich ein Haus für uns.“
Text: Dr. Sandra Hartmann