In Dr. Sandra Hartmanns drittem Roman „Entschulde dich“ geht es um toxische Beziehungen und den Weg hinaus aus einer Hölle, die sich Ehe nennt. „Narzisstische Strukturen sind heutzutage leider noch immer weit verbreitet in unserer patriarchisch aufgebauten Welt und werden sogar als ,normal‘ angesehen. Mir ist es ein Anliegen, mit diesem Roman darauf hinzuweisen, was emotionaler Missbrauch bedeutet und dass Abwertungen und Manipulation kein Mensch verdient hat“, so Buchautorin und Journalistin Dr. Sandra Hartmann. Die 39-Jährige hat in den vergangenen Jahren immer wieder Artikel über diese Themen veröffentlicht, Interviews mit dem Weißen Ring geführt, über Frauenhäuser geschrieben und über Betroffene, die vor Gericht gegangen sind. Mit der Gründung des Netzwerks LÖW:INNEN möchte Dr. Sandra Hartmann gemeinsam mit Expert:innen auf diesem Gebiet, deutschlandweit Frauen und Kinder unterstützen, die Opfer emotionalen Missbrauchs geworden sind.
Wir veröffentlichen auf dem Nachrichtenportal GSCHWÄTZ 1 Kapitel aus diesem Roman. Die gebundene Ausgabe kann man via WhatsApp: 0172/68 78 474 oder E-Mail bestellen: gschwaetz@gschwaetz.de.
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Epilog.
Begeben Sie sich mit mir auf eine Reise in eine idyllische Kleinstadt im Süden Deutschlands mit pittoresken bunten Fachwerkhäuschen und einem alten Rathaus, das Gott mitten in die Hauptstraße hat plumpsen lassen. Kommen Sie mit in den anthrazitfarbenen Bungalow mit den verspiegelten Fenstern und den Überwachungskameras, an dem Besucher:innen vergeblich eine Türklingel suchen.
Treten Sie ein ins 21. Jahrhundert. Und staunen Sie, wie viel sich nicht verändert hat im Laufe von Hunderten von Jahren.
Sie lesen eine Geschichte, Diese Geschichte ist leider kein Einzelfall.
Alle Personen in dieser Geschichte sind natürlich rein fiktiv. Etwaige Übereinstimmungen mit realen Begebenheiten sind bloßer Zufall.
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Kapitel 1.
Manchmal kommt man an einen Punkt im Leben, an dem man nicht weiß, ob man untertauchen oder auftauchen muss. Man weiß nur, dass das Wasser, das um einen herum ist, blau ist. Doch nicht mal das ist so, wie es scheint.
Foto: Frau Wasser. Quelle: freepic
Nina saß in der Badewanne und fror. Das Wasser bedeckte nicht mal mehr ihre dünnen Beine.
Sie hörte bereits am Aufschließen der Tür, als er nach Hause kam, dass er nicht gut gelaunt war. Er war viel früher zu Hause als gewöhnlich. Meistens kam er erst, wenn die Kinder im Bett waren oder noch viel später. „Hallo“, hörte sie ihn rufen. „Hallo“, antwortete sie gleich. „Wir sind hier, im Badezimmer.“ Die Tür öffnete sich nur Sekunden später. Kühle Luft wehte in den Raum.
„Jetzt hast Du die Wanne schon wieder so voll gemacht. Ich weiß gar nicht, was du dir dabei immer denkst“, fuhr Georg sie an. „Das ist nicht gut, wenn du die Wanne so voll machst.“ Noch ehe er fertiggesprochen hatte, öffnete seine Hand bereits den Drehknauf, wodurch das Wasser langsam ablief. Als das Blau ihre Beine nur noch zur Hälfte bedeckte, drehte er den Ablauf wieder zu. „Achte doch bitte einmal auf das, was ich dir sage“, seufzte er, tätschelte Ida und Lars, die mit ihr in der Wanne saßen, kurz den Kopf und verließ wieder den Raum. Nina füllte ein kleines gelbes Glas mit dem noch übrig gebliebenen warmen Wasser in der Wanne und goss es vorsichtig über die kleinen Rücken ihrer Kinder, damit sie nicht froren, und wusch den restlichen Badeschaum, der an ihren zarten, kleinen Körpern hing, ab. Dann stieg sie aus der Wanne und hob erst Lars, dann Ida heraus.
Georg war ein Mann, der sich kümmerte. Ihr Ehemann. Und der Vater ihrer Kinder. Er war sehr beliebt, konnte gut reden, mit jedem Witze reißen, sponsorte Fußballklubs mit dem Geld, dass die Firma, die sie in ihren Ehejahren aufgebaut hatten, generierte. Wenn er den Raum betrat, drehten sich alle nach ihm um. Und Georg liebte den großen Auftritt. Sie konnte sich glücklich schätzen, ihn zu haben.
„Du kannst dich glücklich schätzen, mich zu haben, Nina“, sagte Georg beim Abendessen, als er mit seiner Gabel die Spaghetti in die Höhe hielt und kritisch betrachtete. „Dass ich nicht schon schreiend davongerannt bin bei deinem Essen, ist ein Wunder“, sagte er. Es sollte wohl ein Scherz sein, doch er lachte nicht. Stattdessen verzog er angewidert das Gesicht, ließ die Gabel sinken, ohne auch nur einen Bissen versucht zu haben, schob den Teller mit Spaghetti Bolognese von sich und lehnte sich zurück. Lars machte es ihm nach. Nur Ida ließ sich davon nicht stören: „Ich mag Mamas Essen“, sagte sie. Georgs Augen wurden kurz zu schmalen Schlitzen, dann weiteten sie sich wieder, seine starken Arme griffen nach der kleinen Ida, hoben sie auf seinen Schoß und er flüsterte er ins Ohr: „Später kochst du und du wirst bestimmt fantastisch kochen. Darauf freue ich mich schon.“ Er kitzelte sie kurz, sie kreischte begeistert auf, dann hob er sie wieder von seinem Schoß und gab ihr einen Klaps auf den Po als Zeichen dafür, dass das Abendessen nun offiziell beendet sei und sie springen dürfe. Sie rannte lachend mit Lars in ihr Zimmer. Nina stand auf und begann, alle noch fast voll gefüllten Teller einzusammeln und in die Küche zu bringen. Auch dieses Abendessen hätte sie sich sparen können.
„Ich kann dir sagen, das war heute ein Tag“, begann Georg mit einem tiefen Seufzer, während er am Esstisch begann, seine Fußnägel zu schneiden. „Bruno hat gestern so viel Mist gebaut, als ich auf einem Auswärtstermin war, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Der ist so bescheuert wie ein Stück Brot. Ich habe heute erstmal Klartext mit ihm geredet. Wenn das so weitergeht, kann er sich nächsten Monat einen neuen Job suchen. Heute kann er Überstunden dranhängen, um seine Fehler wieder gutzumachen. Das kostet uns richtig Kohle, wenn er die Teile nicht mehr retten kann.“ Die Automobilindustrie war ein hartes Pflaster. Da sie Georg in der Verwaltung half, hatte auch sie selbst in den vergangenen Jahren schon etliche Diskussionen mit Kunden geführt, als diese aufgrund angeblicher Mängel der Ware nicht bereit waren, zu zahlen. Manchmal endeten diese kleinen Dramen auch vor Gericht.
Georg erzählte noch viel mehr, von weiteren Mitarbeitern, deren Fehler er reihenweise ausbaden konnte und die „alle einfach nichts drauf haben“, von einem Kunden, die nicht zufrieden war und nun die ausgelieferte Ware der Teile nicht bezahlen wolle. „Den musst du morgen sofort abmahnen, Nina. Da ziehen wir vor Gericht. Das geht gar nicht, was der sich erlaubt“ Sie bewunderte Georg für seine Klarheit, seine Geradlinigkeit und sein konsequentes Vorgehen. Das, was er erzählte über das Verhalten von faulen oder in seinen Augen schlichtweg dummen Mitarbeitern und dreisten Kunden, ging wirklich gar nicht und Georg war am Ende immer der Leidtragende und musste sich um die Scherbenhaufen kümmern. Natürlich half sie ihm dabei, so gut sie konnte. Sie war gut im Schreiben, im Abmahnen, bei Gerichtsprozessen gegen Kunden und Mitarbeiter. Sie half Georg, wo sie nur konnte, im Kampf gegen so manche vermeintliche Ungerechtigkeit gegen ihn. So zumindest sah sie viele Jahre die Welt. Durch seine Augen. Sie glaubte ihm alles, was er sagte. Warum sollte ein Mensch auch permanent lügen?
Er sprach weiter, von einem Großauftrag, der sich anbahne, von seinen Plänen, demnächst die Automatisierungsprozesse noch mehr zu digitalisieren. Nina versuchte, interessiert zuzuhören, sagte auch in den richtigen Momenten „ja“, „hmm“, „das verstehe ich. Als sie aufstand, um das Geschirr wegzuräumen, breitete sich jedoch eine ungeheure Müdigkeit in ihrem Kopf aus. Derweil legte sich Georg mit einem Seufzer auf die Wohnzimmercouch und schaltete den Fernseher ein. Nina hatte kaum geschlafen. Seit 4 Uhr morgens war sie nun schon wieder wach. Sie hatte die aktuellen Einnahmen und Ausgaben der Firma zusammengestellt, Werbe-E-Mails an Kunden versendet und die Firma durch geschicktes SEO bei Google höher gerankt, bevor sie die Kinder weckte. Aber die finanzielle Schieflage war mehr als offensichtlich und wurde immer extremer. Sie würde nachher, wenn die Kinder im Bett lagen und schliefen, noch weiterarbeiten. Rechnungen mussten geschrieben werden, Mahnungen. Werbemails. Das Fernsehprogramm verschob sie mal wieder auf den Sankt-Nimmerleinstag.
Dennoch hatte sie heute definitiv nicht mehr die Kraft, das Thema Finanzen anzusprechen, da sie genau wusste, wie aufbrausend Georg jedes Mal bei diesem Thema wurde. Natürlich gab es schönere Themen, über die auch Nina abends lieber sprechen würde. Aber die Zahlen eines Unternehmens waren eben wichtig. Dann kamen stets dieselben Sätze angeflogen: „Was soll das Nina? Willst du mir jetzt wieder eine Predigt halten? Mich unter Druck setzen? Ja, das kannst du gut, das ist aber auch das Einzige, was du kannst. Einmal im Monat mit dem Rotstift kommen und sagen, was anscheinend nicht läuft. Ihr habt doch keine Ahnung im Büro, wie hart wir arbeiten. Ihr trinkt den ganzen Tag Kaffee und tragt doch rein gar nichts zum Umsatz bei. Ihr kostet einfach nur.“ Das war so nicht ganz richtig, zumindest in ihrem Fall. Die ersten drei Jahre hatte sie völlig umsonst gearbeitet, danach wurden ihr 400 Euro im Monat für 40 Arbeitsstunden wöchentlich zugestanden. Seinem Vater hatte er von Beginn an monatlich vierstellige Summen überwiesen. Aber sei’s drum. Sie machte das alles schließlich nicht wegen der Bezahlung, sondern weil sie ihn liebte.
„Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen, Nina“, fuhr er dann in der Regel wütend fort. „Stell du dich doch mal acht Stunden an die Maschine. Mal sehen, wie jämmerlich du dabei ausschauen würdest.“ Natürlich würde sie dabei jämmerlich ausschauen. Das war ja auch kein Wunder. Sie hatte schließlich auch nicht gelernt, mit derartigen Maschinen umzugehen. Er dagegen schon. Was sollte immer dieser schiefe Vergleich zwischen Büro und Handwerk? Georg konnte nicht mal einen Satz fehlerfrei schreiben. Darüber machte sie sich schließlich auch nicht lustig. Im Gegenteil. Es war verblüffend, wie sie sich ergänzten. Wie Ying und Yang. Feuer und Wasser. Himmel und Erde. Unterschiedlicher konnten zwei Menschen nicht sein und passgenauer auch nicht. Er war mutig, führte aus, zumindest nach derartigen Krisengesprächen riss er sich wieder für ein paar Wochen zusammen, bevor es ihn wieder öfter in die Kneipen zog. In guten Zeiten verkaufte Georg jedem Kunden einfach alles. Sie arbeitete hinter den Kulissen, organisierte, bereitete vor, erstellte Verträge, korrigierte und kontrollierte , unterstützte, so gut sie eben konnte. Nur der Alkohol, der allmählich immer mehr in der Werkstatt floss, bereitete ihr Sorgen.
Kistenweise standen dort mittlerweile nicht nur Bierflaschen herum. Im Kühlschrank fand sie mehr hochprozentigen Alkohol als Essen. Als sie Georg darauf ansprach, dass das sicher nicht besonders gut wirkte, , wenn Kunden oder Bankvertreter vorbeischauten, winkte er ab und verwies auf den ein oder anderen Mitarbeiter, der „massive Alkoholprobleme“ habe und nur so vernünftig arbeite beziehungsweise überhaupt arbeite, wenn er seinen „Pegel“ hatte. „Lass da mal etwas passieren, bei der Arbeit. Das wäre ja furchtbar“, antwortete Nina nur und war innerlich schockiert über diese suchtkranken Mitarbeiter. Alkohol bei der Arbeit sei in dieser Branche normal, meinte Georg dann jedes Mal und murmelte dann noch etwas von Fachkräftemangel. Auch Georg kam nicht selten mit glasigen Augen nach Hause. Eine Fahne hatte er aber nie. Manchmal irritierten sie seine Aussagen. Etwa wenn er erzählte, dass ein Geschäftsführer und enger Freund von ihm immer Grey Gooze trank, da man das nicht roch. Ob das stimmte, wusste sie nicht. Sie wusste nicht mal, was Grey Gooze war. Vermutlich Wodka. Früher war sie immer froh, wenn er über andere sprach und den Kopf über deren übermäßigen Alkoholkonsum schüttelte und sich somit davon distanzierte. Irgendwann fiel ihr auf, dass auch er immer häufiger an dem Tisch mit den größten Trinkern zu finden war, dass er bei keinem Fest zumindest einigermaßen nüchtern bleiben konnte, und am nächsten Tag nicht selten mehr Zeit vor der Kloschüssel verbrachte als vor dem Fernseher, um dann weiterzufeiern.
Nicht nur einmal hatte er sogar wegen Alkohol geweint. Sie erinnerte sich an ein sehr einschneidendes Ereignis vor zwei Jahren. Es war sein runder Geburtstag, den er eigentlich nicht feiern wollte. Nina hatte ihn des Öfteren danach gefragt, um zu planen, eine Location zu suchen, alles zu organisieren. Georg hat immer abgewunken. Eine Woche vor dem Tag der Tage hat er sich dann doch spontan umentschieden und wollte auf einmal groß feiern in seiner Autowerkstatt. Nina organisierte innerhalb einer Woche noch schnell Getränke, Essen und verschickte Einladungen per WhatsApp – neben ihren Verwaltungsaufgaben, ihren Kindern und dem Haushalt. Doch viele seiner Freunde waren zu diesem Zeitpunkt schon anderweitig verplant. Es kamen daher auch nicht so viele Gäste wie geplant, so dass am Ende noch kistenweise Alkohol übrig war. Als Nina beim Aufräumen nach der Feier die vollen Kisten wieder in den Anhänger des Getränkehändlers laden wollte, versuchte Georg sie aufzuhalten, stellte sich ihr in den Weg, als sie mit einer vollen Bierkiste bepackt auf den Getränkewagen zusteuerte, er bat sie mehrmals, die Kisten stehenzulassen. Auf einmal begann er wie aus dem Nichts heraus zu weinen. Sie solle den Alkohol doch bitte, bitte da lassen. „Warum? Ihr seid doch hier, um zu arbeiten und nicht, um zu trinken“, sagte sie irritiert und konnte nicht glauben, dass er vor ihr stand und weinte. Er weinte doch nicht tatsächlich wegen dem Alkohol, den sie zurück in den Getränkewagen trug? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Gleichzeitig raste ihr Herz, als sie ihm widersprach, denn dann erhielt sie in der Regel einen Hurrikan als Antwort. „Ja, klar, Nina, aber weißt Du, mir ist das so peinlich vor dem Getränkehändler, dass fast kein Alkohol getrunken wurde. Daher lass doch bitte, bitte den Alkohol da. Er wird doch nicht schlecht.“ Nina schaute Georg immer noch irritiert an, versuchte dann aber, sich weiter ihren Weg mit der Kiste zum Getränkeanhänger zu bahnen und sich an Georg vorbeizuschieben.
Sie hasste es, dass in der Firma ständig getrunken wurde. „Was erzählst du da, Georg? Der Getränkehändler macht sich doch darüber keinen Kopf, wie viel Deine Partygesellschaft getrunken hat. Das ist dem völlig egal.“ Im Übrigen sollte man die Qualität einer Feier nicht danach bemessen, wieviel Alkohol getrunken wurde, dachte sie, sprach ihre Gedanken aber besser nicht aus.
Das war auch besser so. Denn Georg hatte sich bereits eine volle Bierflasche aus der Kiste geschnappt und warf sie vor ihr auf den Boden, dann noch eine. Die Splitter und das Bier trafen sie an ihren Beinen. „Jetzt hör endlich auf damit, die Sachen wegzutragen, verdammt nochmal“, brüllte er mit verheultem Gesicht. Nina erschrak. Er nahm ihr die Kiste aus der Hand und trug sie wieder zurück in die Werkstatt. Danach räumte er auch alle anderen Kisten wieder heraus, bis auf zwei. Die durfte der Getränkehändler wieder mitnehmen. Alles andere trank Georg die folgenden Tage und Wochen. Ob allein oder in Gesellschaft, das wusste Nina nicht. Sie sah nur immer diesen glasigen Blick, wenn er nach Hause kam.
„Also wie gesagt, ich hoffe, dass das mit dem Großauftrag etwas wird“, hörte Nina ihn aus dem Wohnzimmer sagen, während er immer noch auf dem Sofa lag und fernschaute. Sie war nun fast mit dem Abwasch fertig. Hoffentlich klappt das wirklich mit diesem Großauftrag. Ansonsten müssten sie ihr restliches privates Sparguthaben in die Firma stecken, um die Rechnungen bezahlen zu können, dachte sie innerlich und ihr Magen zog sich bei diesem Gedanken zusammen. Sie musste dringend jetzt selbst noch etwas essen, sonst kam sie bestimmt nicht mal mehr auf ihre 48 kg. Aber ihr war schon wieder einfach nur schlecht.
„Maaaama“, drang es auf einmal an ihr Ohr. Ida schrie aus ihrem Kinderzimmer. Georg schaute immer noch fern, ohne Anstalten zu machen, nach den Kindern zu schauen. Also ließ Nina das Geschirr in der Küche erst einmal stehen und lief zu Ida ins Kinderzimmer. „Mama, Lars hat mich gehauen und wieder ganz böse Wörter zu mir gesagt. Du Schlampe und du Fo…“, Nina unterbrach Ida, die mit verheulten Augen auf dem Boden saß, schnell, bevor sie das zweite böse Wort auch noch herausbrüllte. Lars war bereits nicht mehr zu sehen, vermutlich hatte er sich wieder mal in seinem Zimmer verbarrikadiert. Dieses Mal sah man auch die Spuren des Geschwisterstreits deutlich. Idas linke Wange war knallrot und leicht geschwollen. Das kam eindeutig nicht vom Weinen. „Oh Schatz“, das tut mir aber leid. Habt ihr gestritten? Soll ich mal mit Lars sprechen? Lars, kommst Du mal, bitte“, rief sie. Niemand rührte sich. „Lars?“ Beim dritten Mal rufen stand auch Georg in Idas Zimmertüre, gleich hinter Lars. „Was ist denn hier los gewesen bei euch?“, fragte sie Lars. „Gar nichts“, antwortete Lars und zuckte mit den Schultern. „Das stimmt nicht“, sagte Nina. „Ida hat eine knallrote Wange. Du hast ihr eine Ohrfeige gegeben. Das geht gar nicht, Lars. Schlagen geht gar nicht.“ Georg legte währenddessen seine großen Hände auf Lars‘ Schultern. „Ida, du darfst Lars aber auch nicht provozieren“, sagte Georg und schaute seine Tochter streng an. „Ich habe ihn nicht provoziert“, nun weinte Ida noch doller. Ihr Gesicht wurde puterrot. „Naja, provoziert hin oder her – schlagen ist tabu, Lars“, sagte Nina mit etwas mehr Nachdruck und schaute dabei Lars an, obwohl sie auch Georg meinte. „Und das Sch… und das F-Wort möchte ich auch nie wieder hören.“ Das F-Wort hatte Lars nun schon öfter zu Ida im Streit gesagt und Nina konnte sich denken, wo er es aufgeschnappt hatte.
„Verpiss dich, du Fotze“, hatte Georg das letzte Mal zu ihr selbst gesagt, als sie mit seinem Vater darüber sprechen wollte, warum dieser Nina zweimal geschubst und an ihre Brust gefasst hat. Dieser Vorfall ereignete sich vor ein paar Monaten. Ihre Kinder bekamen leider oft mit, wie Georg sie beleidigte, wie sie sich wieder vermeintlich falsch verhalten hat. In diesem Fall gegenüber seinem Vater.
„Hau ab aus meinem Haus. Sonst vergesse ich mich. Verschwinde. Hau ab, hau ab mit deinen Bälgern. Du kannst einfach gar nichts. Du bist nichts ohne mich und meinen Vater, Nina. Nichts. Nur ein Haufen Scheiße. Ich kann nicht mehr. “, brüllte Georg Nina weinend im Hausflur an, während die Kinder danebenstanden – Lars stand staunend mit weit aufgerissenen Augen da, während Ida weinend auf der Treppe saß. Dann ging Georg aus dem Haus und fuhr davon. Vermutlich – wie so oft – in seine Stammkneipe.
Ninas Herz raste damals. An diese Szene im Hausflur und wie sie sich dabei fühlte, konnte sie sich noch genau erinnern. Sie schluckte, kratzte in diesem Moment, als sie wieder mal nur noch Dreck wert war – in seinen Augen und damit auch oft in ihren eigenen Augen – ihren letzten Rest Mut zusammen und tat es ohne ihn. Sie ging zu seinen Eltern und sprach mit seinem Vater über das, was geschehen war. Sie wollte die Situation klären, wollte kein Feigling mehr sein. Sie wollte wissen, warum man so miteinander umging, warum Georgs Vater sie geschubst hatte, warum er sie mehrmals begrabscht hatte. Warum ihr Mann nun schier durchzudrehen schien, nur weil sie mit seinem Vater über den Vorfall sprechen und alles klären wollte. „Ihr hattet eine Meinungsverschiedenheit. Du hast ihn provoziert. Du bist zu nah an ihn herangetreten, Nina“, erklärte ihr Georg damals wütend. „Herrgott nochmal Nina, Du solltest doch wissen, wie man sich gegenüber anderen Menschen zu verhalten hat.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Du musst dich endlich mal zusammenreißen.“ Sie schluckte. Sie musste sich endlich zusammenreißen.
Sie hatten vor vier Wochen eine Meinungsverschiedenheit gehabt, das war richtig. Nina hatte Georgs Vater bereits den Rücken zugewandt und wollte gehen, weil es einfach nichts brachte, mit ihm zu diskutieren. Da wurde Georgs Vater immer lauter, brüllte ihr irgendwelche Dinge nach, bis Nina beschloss, sich das nicht mehr länger gefallen zu lassen. Sie drehte sich wieder um, ging auf ihn zu und sagte zweimal langsam und ruhig: „Ich möchte nicht, dass du mich anschreist.“ Als sie vor ihm stand und ihm in die Augen sah, schubste er Nina plötzlich nach hinten, wobei seine rechte Pranke dabei großflächig auf ihrer linken Brust lag. „Hör auf“, sagte Nina zu ihm. Er schubste sie noch einmal. Wieder lag seine rechte Pranke großflächig auf ihrer linken Brust. Nina war wie gelähmt. Tränen schossen ihr in die Augen. „Du solltest dich glücklich schätzen, in diesem Haus mit uns leben zu dürfen“, hörte sie ihn daraufhin mit erhobenem Zeigefinger sagen. „Du faules Stück mit deinem falschen Lächeln.“ Nina war fassungslos und brachte kein Wort mehr heraus. Sie konnte sich in diesem Moment nur noch umdrehen und gehen.
Warum war sein Vater so? Warum war Georg so? Warum war sie so? Warum ließ sie sich das alles gefallen? War sie wirklich an allem alleine Schuld? Sie wollte keinen ständigen Dramen in ihrem Leben mehr, keine Übergriffe mehr. Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Und Antworten.
In diesem Gespräch mit seinem Vater sollte es weder um Anschuldigungen noch um Entschuldigungen gehen. Sie wusste, dass sein Vater sich noch nie bei jemanden entschuldigt hatte und dass das von ihm auch noch niemals jemand erwartet hatte. Nina sollte sich stattdessen bei ihm entschuldigen. Es war schon ein großer Schritt von ihm, dass er überhaupt mit ihr über den Vorfall sprach. Sie saßen sich im Wohnzimmer gegenüber. Ninas Schwiegermutter machte ihnen einen Kaffee. „Also“, Nina räusperte sich. „Ich wollte mir dir darüber sprechen, was vor kurzem passiert ist“, begann Nina mit einem großen Kloß im Hals das Gespräch. „Und ich wollte gleich vorneweg sagen, dass es hier nicht um Schuld oder Unschuld geht“, hob sie abwehrend die Hände, als er bereits zu einer abwiegelnden Antwort ansetzen wollte. „Ich möchte nur sagen, dass es schön wäre, wenn wir uns alle künftig mit Anstand und Respekt begegnen.“ – „Ja, das sehe er genauso“, antwortete ihr Schwiegervater auf ihr Friedensangebot bei ihm im Wohnzimmer. „Weiß Du, Nina. Ich halte nicht viel von dir. Aber zumindest hast du dafür gesorgt, dass mein Sohn weniger trinkt. Und du bist eine gute Mutter.“ Das waren die ersten und einzigen Komplimente, die Nina je von ihrem Schwiegervater gehört hatte. „Hast Du Georg eigentlich jemals gelobt?“, fragte sie ihn und wunderte sich gleichzeitig über ihren Mut, ihm diese Frage zu stellen. Aber irgendwie ahnte sie in diesem Moment schon, dass es das erste und letzte Mal sein würde, dass sie so offen miteinander sprachen. Er überlegte nicht lange. „Nein.“ Auch er sei nie gelobt worden von seiner Stiefmutter, erzählte er mir. Sie sei eine böse Frau gewesen. „Aber er hat immer sehr eng mit unserem kleinen Georg im Bett gekuschelt, wenn er krank war“, warf Ninas Schwiegermutter in das Gespräch ein. „Mein Vater ist mein bester Freund, Nina. Mein bester Freund“, betonte Georg immer wieder, auch und vor allem nachdem sein Vater Nina geschubst und an ihre Brust gefasst hatte. Sein Vater, der ihn sein Leben lang nie gelobt hatte, aber dafür mit ihm eng und intensiv im Bett gekuschelt hat, war noch immer sein engster und bester Freund. Und besten Freunden verzieh man vieles, auch wenn sie die eigene Ehefrau schubsten und angrabschten.
Die Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik zwischen Georg und seinem Vater kam Nina bekannt vor. Georg lobte Lars ebenfalls nie, sondern schlug ihn auch mal, wenn dieser nicht parierte. Dann gab es wieder Momente, in denen er ihn manchmal stundenlang, wirklich stundenlang streichelte. Georg legte sich am liebsten eng umschlungen neben Lars, wenn sie gemeinsam einen Film anschauten. Es kam vor, dass er ihn den gesamten Film über streichelte, an den Armen entlang über seinen Körper bis zu seinen Beinen und wieder zurück. Manchmal knabberte Georg auch an Lars‘ Ohrläppchen herum. Das Nie-loben auf der einen Seite fand Nina schon schlimm, aber dieses extreme Kuscheln auf der anderen Seite war noch merkwürdiger. Immerhin war Lars bereits 12 Jahre alt. Im Bett lagen sie meistens zu dritt, mit einem Kind in der Mitte, an das sich Georg eng schmiegte und im Optimalfall die ganze Nacht innig umarmte. Manchmal kam sie sich richtig deplatziert vor. Als sie von ihrer Schwiegermutter erfuhr, dass das Verhältnis zwischen Georg und seinem Vater ähnlich geprägt war, wunderte sie hingegen gar nichts mehr. Georg kannte es schlicht nicht anders und dachte, das wäre normal. Das Kind als Partnerersatz.
Als Nina ihm während eines Filmes einmal sagte, dass sie diese intensive Streicheleien schon etwas merkwürdig fand, reagierte Georg gewohnt aufgebracht: „Was willst du mir jetzt unterstellen, Nina? Dass ich ein Pädophiler bin? Ein Kinderschänder?“ – „Nein, natürlich nicht“, wiegelte sie schnell ab. „Aber…“ – weiter kam sie mit ihrem Erklärungsversuch nicht. „Mir reicht es wirklich mit dir, Nina. Du bist ja krank. Ich halte das einfach nicht mehr aus. Du bist so irre.“ Daraufhin zog er sich an und stürmte wieder einmal aus dem Haus, vermutlich in eine Kneipe. Als er nach Hause kam, trank er noch zwei große Flaschen Bier und schlief auf dem Sofa. Er sprach danach eine ganze Woche lang kaum ein Wort mit ihr. Das war des Öfteren so nach einem Streit. Die einzigen Sätze, die sie hörte, waren in der Regel: „Wir sind nun langsam wirklich an einem Punkt in unserer Ehe angelangt, wo das so nicht mehr so weitergeht. Du bist einfach nur irre.Entweder du reißt dich langsam zusammen oder ich verlasse dich.“ Er halte diese Ehe mit ihr einfach nicht mehr aus. Er gehe daran kaputt. Er brauche nun erst einmal Abstand und werde daher für ein paar Tage in der Werkstatt übernachten. Nach diesen Sätzen, die sie oft nach ihren Auseinandersetzungen zu hören bekam, machte sich stets dieselbe Panik in ihr breit: dass sie ihn verlieren könnte. Warum hatte sie auch nur so reagiert? Warum hatte sie überhaupt etwas gesagt? So schlimm war das doch alles gar nicht. Sie wusste ihr Glück einfach nicht zu schätzen mit diesem Mann. Sie war tatsächlich irre. Er hatte Recht. Sie reagierte völlig über. Nach seinen deutlichen Worten, dass er sie verlassen würde, wenn sie so weitermache und sich nicht bald „am Riemen riss“, versuchte Nina in den Tagen darauf, noch mehr Gas zu geben als gewöhnlich, noch fleißiger in der Firma zu sein, sich noch besser um die Kinder zu kümmern, besser zu kochen und besser zu putzen. Damit er sah, dass auch er sich glücklich schätzen konnte, sie zu haben.
Noch immer sah man auf der Küchenzeile manchmal vereinzelte Wassertropfen, nachdem sie diese gereinigt hatte und das mochte Georg gar nicht. Er zeigte ihr dann, wie sie sich verbessern konnte, auch beim Badezimmer putzen. Denn auch in diesem Bereich hier übersah sie einiges. Sie sollte spezielle Mittel benutzen, zum Putzen der verschiedenen Böden, zum Wäsche waschen und auch zum Duschen kaufte er Duschgel für sie und Ida ein, die ihm besonders gut rochen. Oft schüttelte er nur den Kopf vor der Verwandtschaft und den Kindern über sie, da die Wäsche nach dem Waschen noch immer nicht so roch, wie er es sich vorstellte. Es war einfach nur zum Fremdschämen mit ihr. Manchmal bekam sie dann Instruktionen und Anleitungen von seiner Schwiegermutter, wie sie es besser machen konnte.
Nicht nur sein Vater, uch Georg war schon handgreiflich ihr gegenüber geworden. Aber das war lange her. Als Nina mit Lars hochschwanger war, eskalierte ein Streit zwischen den beiden derart, dass Nina auf Georg zugehen wollte, er sich dadurch jedoch bedroht fühlte und ihr schließlich in den kugelrunden Bauch trat. Ein andermal hatte sich Nina während eines Streits mit dem damals dreijährigen Lars im Badezimmer eingeschlossen aus Angst vor dem tobenden Georg. Dieser brach jedoch die Holztür mühelos auf. Sie rief ihre Mutter weinend an und frage sie, ob sie mit Lars zu ihr kommen könne. Aber ihre Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt einen Mann an ihrer Seite, der sehr schnell hohen Blutdruck bekam. Daher meinte ihre Mutter zu Nina, dass es besser sei, sie bleibe erstmal bei Georg. So schlimm werde es schon nicht sein. Das werde sich alles wieder beruhigen. Morgen sehe die Welt schon wieder ganz anders aus. „Siehst du, nicht mal deine Mutter möchte dich haben, Nina“, sagte Georg und schnaubte verächtlich.
Während die körperlichen Übergriffe Ausnahmen blieben, gab es fast täglich psychische Abwertungen. Bereits bei ihrer Hochzeit vor dreizehn Jahren eskalierten die Vorbereitungen, als Nina eine andere Tischordnung haben wollte, als ihr Schiegervater in spe. Daraufhin sagte dieser, er werde nicht zu dieser Hochzeit kommen. Georg zog sich aufgrund dessen ebenfalls von den Hochzeitsvorbereitungen komplett zurück und saß stattdessen in seiner Stammkneipe, anstatt Nina bei den Vorbereitungen für die in einer Woche stattfindende Hochzeit zu helfen. Am Ende taten sowohl Georg als auch sein Vater am Tag der Hochzeit so, als wenn nie etwas gewesen wäre. Beide betranken sich am Hochzeitstag und feierten.
Ein oder zwei Jahre nach Gründung der Autowerkstatt rief eine Mitarbeiterin Nina weinend an. Georgs Mutter habe sie soeben angeschrien, weil sie mit den neu ausgehandelten Stromverträgen, die nicht nur die Firma, sondern auch den privaten Haushalt der Schwiegereltern betrafen, unzufrieden gewesen war. Nina ging zu ihrer Schwiegermutter, um mit ihr darüber zu sprechen, dass sie Mitarbeiter nicht derart angehen könne. Daraufhin mischte sich ihr Schwiegervater ein: „Weißt Du, Nina, Du solltest einfach nur dankbar sein, mit uns leben zu dürfen. Du bist nichts. Und du kannst nichts. Was willst du eigentlich?“, fragte er sie und breitete dabei seine Arme aus, wie wenn er sie zu einem Boxkampf auffordern wollte. Sie ließ noch weitere Beleidigungen fassungslos über sich ergehen und konnte auch an dieser Stelle nur mit Sprachlosigkeit antworten.
Du bist nichts und du kannst nichts. Diese Sätze hörte sie oft in ihren 13 Ehejahren. Von ihrem Schwiegervater und von ihrem Ehemann. „Du bist nichts ohne mich und meinen Vater.“ Richtig. Sie war auch längst ein nichts mehr. Sie löste sich auf. Sie hatte keine Freunde mehr von früher, sie waren nur noch mit seinen Freunden unterwegs, mit seiner Familie, mit seiner Firma beschäftigt, beziehungsweise mittlerweile war sie eigentlich fast nur noch zu Hause, arbeitete am PC für seine Firma, hütete die Kinder, schmiss den Haushalt und er war alleine weg. Sie hatte ihren Beruf nach der Elternzeit gekündigt, um ihm beim Aufbau der Firma verwaltungstechnisch zu helfen. Es war einfach nichts mehr übrig, dass sie auszeichnete. Im Grunde wusste sie nicht mal mehr selbst, wer sie war. Vielleich hatten ja er und seine Eltern Recht. Vielleicht war sie wirklich ein Nichts. Zu nichts nutze. Zu blöd zum Kochen und Putzen. Unhöflich. Ohne Respekt vor der älteren Generation. Undankbar.
Nachdem sie damals das Gespräch mit Georgs Vater suchte, Georg daraufhin einen Wutanfall bekam und Nina und die Kinder nicht zum ersten Mal aus dem Haus werfen wollte, kam Georg ein paar Stunden später wieder zurück, setzte sich in den Wohnzimmersessel, nahm Ida auf seinen Schoß und fragte munter: „Na, was habt ihr Schönes gemacht?“ Diese Szene hatte schon etwas von Dr. Jekyll-und-Mister-Hyde. Während er noch wenige Stunden zuvor allesamt vor die Tür setzen wollte, sie bis aufs Mark beleidigte, war er nun wieder der fürsorgliche Familienvater, als ob nie etwas passiert war. Früher wäre sie dankbar gewesen dafür, dass er sich wieder beruhigt, hatte und bei ihnen blieb. Allmählich machten seine konträren Verhaltensweisen Nina allerdings wirklich Angst. Zudem konnte Nina die furchtbaren Worte und Sätze, die man ihr ständig bei Wutausbrüchen an den Kopf warf, nicht so einfach abschütteln. Sie blieben kleben wie Honig an ihrer Haut.
Georg wollte weder wissen, ob und was genau Nina nun mit seinem Vater gesprochen hatte, noch, ob man nun wieder Frieden habe. Warum Georg so wütend wurde und letztendlich weggerannt war, sie wusste es nicht. Ihr kam der Verdacht, dass Georg vor diesem Gespräch nicht geflüchtet war, weil er Nina die ganze Schuld in die Schuhe schob, dass sein Vater ihr gegenüber handgreiflich wurde, sondern aus purer Angst vor seinem Vater. Er rannte vor einem offenen Gespräch mit seinem Vater weg, weil er vermutlich ein solches Gespräch noch nie mit ihm geführt hat. Wenn das so war, tat er ihr schon wieder leid. Aber es war auch nicht wirklich abwegig. In seiner Familie sprach man nie über Konflikte. Es gab keine Konflikte. Man hatte einfach nur den Mund zu halten und zu den Anweisungen zu folgen. Ganz einfach.
Machte man das nicht, war man selbst schuld. Als Georg nicht einmal hinter ihr stand, als sein Vater sie derart angegangen war, war das für Nina der Turning point. Der Punkt, an dem Nina schlagartig und eindeutig begriff, dass sich Georg und dieses Familiensystem nie ändern würden. Übergriffigkeiten waren erlaubt, wenn man provoziert wurde. Und provoziert fühlten sich Georg und sein Vater manchmal nur durch Kleinigkeiten. Es ging daher ab diesem Zeitpunkt nur noch um die Frage, ob Nina in diesem System blieb oder ging. Ihre Entscheidung hatte sie bereits getroffen. Sie hatten zwei Kinder. Und sie wollte weder, dass Lars ein Täter wurde, noch Ida das Opfer. Sie wollte, dass beide die Chance bekamen, in einem gesunden Umfeld aufzuwachsen – ohne Abwertungen, Beleidigungen, Erniedrigungen, ohne Übergriffe.
Aber vereinzelte Übergriffe gab es bereits bei den Kindern. Und damit meinte sie nicht nur die ausgiebigen, intensiven Streicheleinheiten bei Lars, sondern auch die Schläge, die er erdulden musste, wenn er nicht so funktionierte, wie Georg sich das vorstelle. Auch hier hatte sie vieles übersehen, bis Lars sich eines Tages kurz vor seinem 12. Geburtstag im Esszimmer an die Seite von seiner Mutter stellte, Georg anschaute und sagte: „Ich habe Angst vor Dir, Papa.“ Nina schaute Lars an, dann Georg. Und hielt die Luft an. Allein dieser Satz von Lars musste die pure Provokation für Georg sein. „Warum hast du denn Angst vor mir, Lars?“ Georgs Augen verengten sich. Lars war schon immer sehr mutig gewesen: „Weil du mich manchmal schlägst.“ Nina schaute erst zu Lars, dann zu Georg, dann wieder zu Lars. „Neulich habe ich meine Schuhe nicht schnell genug gefunden. Da hast du mich geschlagen. Und ein andermal…“ – „-Ich gebe zu, dass ich dich manchmal geschlagen habe“, unterbrach ihn Georg und richtete seinen Zeigefinger auf Lars: „Aber dazu stehe ich, hörst du. Es gibt nichts, was ich anders machen würde. Ich würde alles genauso wieder machen.“ – „Du hast ihn geschlagen?“, krächzte Nina. „Nina, ich sag dir was. Manche Charaktere sind nur so zu bändigen. Ich weiß das am besten. Ich bin auch so wie Lars. Immer Grenzen austesten. Ich habe auch Grenzen gebraucht. Er wird dir ansonsten auf der Nase herumtanzen. Er wird irgendwann auf die schiefe Bahn geraten, wenn auch du nicht härter durchgreifst.“
Nina wusste, dass Georg und seine Geschwister regelmäßig geschlagen worden waren in ihrer Kindheit. Das war quasi normal in dieser Familie. Darüber sprach Georg auch ganz offen. Teilweise erfolgten die Ohrfeigen ohne ersichtlichen Grund, wenn man nur nicht schnell genug an einem Elternteil vorbeilief. Mittlerweile lachten sie darüber, wenn sie sich daran erinnerten. Aber sie lebten jetzt nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert. Georg konnte doch nicht ernsthaft glauben, dass Schläge den Charakter zu etwas Besserem formten. Noch dazu hatte ihr Ehemann eine sehr kurze Zündschnur. Dabei konnte ihm schneller die Hand ausrutschen, als man bis drei zählen konnte. Im Urlaub spielten sie einmal mit Freunden ein Kartenspiel auf der Terrasse, Georg hatte schon einiges getrunken an diesem Tag. Lars war vielleicht zehn Jahre alt gewesen, musste auf die Toilette und vergaß, die Fliegengittertüre zu ihrer Ferienwohnung zu schließen, obwohl Georg es ihm kurz zuvor noch gesagt hatte. Daraufhin zischte Georg: „Der ist so dämlich“, stand, rannte hinter Lars her und Nine hörte es nur noch knallen. Sie saß wie angeklebt auf ihrem Stuhl. Lief nicht hinterher. Tröstete Lars danach nicht. Was war sie nur für eine Mutter? Sie hatte Lars nicht beschützt.
Die Coronajahre machten die Sache nicht besser. Während in der Werkstatt wie bei vielen anderen Firmen die Mitarbeiter in Kurzarbeit gingen und auch in der Verwaltung Mütter in dieser Zeit wegbrachen, weil sie sich um ihren Nachwuchs kümmern mussten, als die Schulen geschlossen waren und der Unterricht von zu Hause stattfinden sollte, versuchte Nina, home office und home schooling wie viele andere Frauen in Deutschland in dieser Zeit irgendwie unter einen Hut zu bekommen. Sie war weder Pädagogin noch Lehrerin, aber sie gab ihr Bestes, machte mit Ida die Deutsch- und Matheblätter der Grundschule, half Lars in Englisch, schrieb Angebote für Georgs Kunden, beantwortete E-Mails, versuchte, überall alles zu geben, übernahm Aufgaben von Mitarbeiter:innen in der Verwaltung, die ebenfalls Kinder hatten und mit home schooling beschäftigt waren. Während Ida relativ mühelos ihre Sachen erledigte, machte sich bei Lars nun ganz deutlich seine bereits bekannte Konzentrationsschwäche bemerkbar. Es fiel ihm deutlich schwerer, als Ida, dem digitalen Unterricht zu folgen, seine Aufgaben zu erledigen und sich zu organisieren. Er verpasste in dieser Zeit unheimlich viel und es war anstrengend, ihn zum Lernen zu motivieren. Das gelang eigentlich nur, wenn man neben ihm so lange sitzenblieb und ihn anspornte, bis alles fertig war. Aber selbst dann kam es vor, dass Nina und ihr Sohn an den Matheaufgaben Stunden zubrachten. Während Ninas Freundin ihr entspannt erzählte, dass das alles super klappen würde bei ihnen zu Hause mit den Kindern und dem home schooling – sie sprach von Arbeitsteilung mit ihrem Mann im Haushalt und vielem mehr – fragte Nina sich, wo Georg eigentlich den ganzen Tag steckte. In der Firma wurde Kurzarbeit gefahren, die Auftragslage war mau. Er war trotzdem so gut wie nie zu Hause. Als sie wieder einmal bis spät abends mit Lars versuchte, die Matheaufgaben zu Ende zu machen, kam Georg nach Hause. Als Nina ihm berichtete, dass sie immer noch an den Matheaufgaben saßen und das nun schon seit Stunden, ging er in Lars‘ Zimmer, stach ihm mit seinem Zeigefinger in den Nacken und raunzte ihn an: „Mach jetzt endlich deine Hausaufgaben fertig, hörst du?“ Kein „hallo“. Kein „wie geht es dir?“ Nina blieb wie gelähmt in der Zimmertüre stehen und bereute mal wieder zutiefst, überhaupt etwas zu Georg gesagt zu haben.
„Hör auf, Georg. Was soll das? So lernt Lars auch nicht schneller“, hörte sie sich selbst sagen. Georg hörte auf, schaute sie mit schmalen Schlitzen an und erwiderte nur: „Nina, du bist so schlecht. Glaubst du, mit deinem Kuschelkurs wird er es jemals zu irgendetwas bringen? Der ist doch genauso irre wie du. Du und Deine ganze Familie. Ihr seid doch alle irre. Lars, ich sage dir jetzt mal etwas.“ Dabei drehte Georg den Schreibtischstuhl von Lars herum, so dass Lars, der bislang kein Wort zu seinem Vater gesagt hat, ihn anschauen musste. „Du bist ein Versager, Lars. Du bist ein Versager. Du bist nichts und du kannst nichts ohne mich. Du wirst mich dein ganzes Leben lang brauchen – so wie ich meinen Vater mein ganzes Leben lang brauchen werde.“ Nina hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. WAS FÜR EINEN QUATSCH redest du da eigentlich?, hätte sie ihn am liebsten angebrüllt. Das ist dein Sohn. Er ist kein Versager. Er ist ein fantastischer Junge, der es verdient hat, von dir einfach so geliebt zu werden, wie er ist. Ohne Bedingungen. Aber sie blieb wieder einmal stumm.
Als der Ukrainekrieg Corona nach fast zwei Jahren aus dem deutschen Alltag allmählich verdrängte und die Kinder wieder zur Schule durften, besuchte sie mit Lars wieder den Physiotherapeuten, damit er lernte, sich mit speziellen Lernmethoden und Entspannungsübungen besser konzentrieren zu können. Der Physiotherapeut betonte immer wieder, wie wichtig ein ruhiges familiäres Umfeld auch zuhause wäre. Nina bat daher Georg, dass er auch einmal mitgehe, damit der Physiotherapeut mit ihm sprach. Als Nina sich bei diesem Dreiergespräch überwand und nur ansatzweise andeutete, welche Sündenbockrolle ihr Sohn manchmal zuhause hatte, meinte der Physiotherapeut nur zu Georg: „Wir sind hier nicht im wilden Westen, Herr Konz.“ Solche Methoden seien heutzutage weder üblich, geschweige denn effektiv. Aber die ganzen Geschenke, die er uns allen immer machen würde, die tollen Urlaube, die wir uns nur leisten konnten, weil er jeden Tag so hart arbeite, das sei doch auch etwas wert, antwortete Georg. Der Physiotherapeut meinte daraufhin nur lapidar: „Geld ist nicht alles, Herr Konz.“
In der Schule wurde Nina immer häufiger darauf angesprochen, ob sie es nicht doch einmal mit Medikamenten versuchen wolle bezüglich Lars und seiner Konzentrationsschwäche. Aber sie sah ihn einfach nicht in diesem Bereich. Dennoch gab sie irgendwann nach, nachdem der äußere Druck immer mehr zunahm. Lars sollte einen Konzentrationstest sowie einen Persönlichkeitstest machen und dann eingestuft werden. Dabei stellte sich heraus, dass Lars stark suizidal war. Das zumindest urteilte der Kinderpsychologe, der den Test ausgewertet hatte. „Ich bin einfach zu blöd, ich kann das nicht“, sagte Lars des Öfteren, wenn er mal wieder einen Tag hatte, an dem es mit seiner Konzentration nicht so gut lief. Dann konnte es schon mal sein, dass er seinen Kopf an die Wand hämmerte oder auf die Tischplatte schlug und auch sagte, dass er nicht mehr leben wolle.
Im Rahmen der ADHS-Untersuchung berichtete Nina dem Kinderpsychologen von der schwierigen Situation zu Hause und welche Rolle Lars hier manchmal einnahm. „Du bist doch zu blöd zu allem“, hatte Georg schon des Öfteren zu Lars gesagt. Lars hatte diesen Satz mittlerweile so sehr verinnerlicht, dass er, wenn er etwas nicht sofort hinbekam, sagte: „Ich bin eben zu dumm zu allem.“ Kinder, denn das Etikett ADHS auf die Stirn geklebt wurde, waren oftmals hypersensibel. Das heißt, sie bekamen mehr als andere Kinder Alltagsdramen mit und brauchten eigentlich ein harmonisches, ruhiges Umfeld. Das hatten sie derzeit nicht vorzuweisen, aber Nina war sicher, wenn Lars dieses Umfeld hätte, bräuchte er keine Medikamente. Sein Verhalten war schlichtweg ein Symptom für diese ganzen Dramen, die sich bei ihnen zu Hause abspielten.
Schweißperlen rollten ihr über ihre Schläfen. Denn sie wusste genau, wenn Georg erfuhr, dass sie erzählte, welcher Film bei ihnen in der Familie hinter den Kulissen manchmal ablief, konnte sie sich warm anziehen. Aber sie wollte auch erklären, dass Lars nicht einfach so war, wie er war, sondern dass es dafür vielleicht ganz andere Gründe gab. Lars saß schweigend neben ihr, als sie von ein paar Vorfällen berichtete und erwähnte, dass der Vater die Ansicht vertrat, dass Lars Schläge brauche wegen seines schwierigen Charakters und dass er sich öfter mal anhören dürfe, dass er nichts tauge, nichts könne ohne ihn und dass er ein Versager sei. Der Kinderpsychologe sagte nicht viel dazu. Bei einem Telefonat Wochen später erklärte der Kinderpsychologe Nina dann in aller Deutlichkeit, dass er darauf aufmerksam machen wollte, dass das, was bei ihnen zuhause passierte, vermutlich höchst kindeswohlgefährdend sei und dass er daher dringend zu einer räumlichen Trennung zwischen dem Sohn und dem Kindsvater rate. Das war für Nina nur eine weitere Bestätigung dafür, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie musste mit den Kindern weggehen.
Der Alkohol machte die Sache nicht besser. Auf einer Geburtstagsfeier seines Vaters wurde mal wieder derart viel Alkohol konsumiert, dass Georg stark angetrunken war, als sie die Kinder ins Bett brachten. Eigentlich war Georg gut gelaunt, bis Lars sich vor seinem Vater aufbaute und sagte: „Du hast doch schon wieder zu viel getrunken.“ Daraufhin schubste Georg seinen Sohn in seinem Kinderzimmer nach hinten gegen das Bett. „Lass das, Georg. Du hast zu viel getrunken“, sagte Nina daraufhin reflexartig ohne zu Überlegen und stellte sich zwischen Lars und Georg. „Was soll das nun schon wieder heißen, Nina? Was willst du? Willst du damit etwa sagen, ich hätte ein Alkoholproblem?“, fuhr Georg sie an. „Nein, natürlich nicht“, antwortete Nina. Georgs Augen füllten sich mit Tränen. „Weißt du, ich halte das hier einfach nicht mehr aus hier. Mit Dir und mit euch. Wie du mich wieder hinstellst. Als wenn ich das Allerletzte wäre. Ich muss hier raus. Ich kann das alles nicht mehr. Ich werde euch verlassen“, sagte Georg weinend, zog seine Jacke an und griff nach seinem Schlüsselbund. „Jetzt bleib doch hier, Georg“, sagte Nina beschwichtigend. „Nein, Papa, geh nicht“, weinten die Kinder. „Georg.“ Aber Georg lief bereits leicht taumelnd Richtung Ausgang. „Georg, du kannst so nicht mehr Autofahren.“ – „Ich werde auch nicht fahren. Ich laufe.“ – „Aber wohin denn?“ – „Papa, komm zurück“, bettelten die Kinder weiter. Aber Georg ließ sich nicht aufhalten. Es war schon spät. Die Dunkelheit hatte sich bereits über ihre Straße gelegt. „Mama, Papa soll zurückkommen. Mama, sag Papa, dass er zurückkommen soll!“, schrien nun Ida und Lars panisch im Chor. Eigentlich hätte sie ihren Ehemann einfach ziehen lassen sollen. Besser ein betrunkener Ehemann irgendwo auf der Straße als zuhause. Aber die Kinder flehten sie an. Also setzte sie kurzerhand ihre Kinder ins Auto. Im Schritttempo fuhren sie neben ihm her. „Nun steig endlich ein, Georg, komm schon. Komm nach Hause.“ Aber es war nichts zu machen. Er ging weiter, heulend, Sätze wie „ich halte das nicht mehr aus“ trieften aus seinem Mund, und irgendwann ließ sie ihn ziehen. Die weinenden Kinder im Auto. „Euer Vater wird schon wieder zurückkommen.“ Zuhause angekommen brachte sie Ida und Lars ins Bett. Die beiden kuschelten sich gemeinsam in eines und Nina las ihnen noch eine Gutenachtgeschichte vor. Irgendwann waren sie endlich eingeschlafen. Und irgendwann in der Nacht kam auch Georg zurück. Am nächsten Morgen machte er für alle Pfannkuchen zum Frühstück, als ob nie etwas gewesen wäre. Die Kinder freuten sich, Ida saß auf dem Schoß ihres geliebten Papas und gemeinsam aßen sie Pfannkuchen mit Nutella.
Er und seine Prinzessin. „Du bist meine kleine Prinzessin“, sagte Georg stets zu Ida. Und Ida strahlte dabei immer über das ganze Gesicht. Er legte Wert auf ein gutes Äußeres, nicht nur bei sich selbst. So war es nicht verwunderlich, dass Idas kleine Füße schon früh in den teuersten Markenschuhen steckten oder in einem Designerkleid von Ralph Laurent Kids, ausgesucht von Georg für seine kleine Prinzessin. Und er mochte es, wenn sie gut roch. Er kaufte Nina und Ida daher immer Duschgel und Shampoo, dass er im wahrsten Sinne ebenfalls gut riechen konnte und erklärte der kleinen Ida, wie sie sich richtig und ausgiebig wusch, auch „untenherum“, damit sie „nicht stinkt“. Georg stellte sich dann vor die Dusche und sah seinem Mädchen zu, ob sie alles richtig machte. Irgendwann stand Ida fast täglich unter der Dusche und wusch sich an allen Stellen ausgiebig, damit sie „nicht stinkt“, wie sie selbst sagte. Ihre Mutter beobachtete die Entwicklung mit Sorge.
Nina wusste, auch ohne die klare Aussage des Kinderpsychologen, dass zu gehen der einzig mögliche Weg war, ihren Kindern noch einmal eine Chance zu geben, einigermaßen in Ruhe und Frieden aufzuwachsen. Aber dieser Weg war nicht einfach. Der Wohnungsmarkt war wie leergefegt und die wenigen Wohnungen, die es gab, völlig überteuert. Zudem war die finanzielle Abhängigkeit, in die sie sich selbst in den vergangenen 13 Jahre ihrer Ehe manövriert hatte, nicht zu leugnen. Die Kinder hingen zudem sehr an ihrem Zuhause, ihren Freunden. Georg sprach immer öfter davon, dass sie sich mit den Kindern „doch endlich verpissen sollte“, wenn wieder einmal der Haussegen schief hing. Er würde niemals ausziehen. Das wusste sie. „Und vergiss nicht, Nina, wenn du gehst: Die Kinder sind dann ganz allein Dein Problem.“ Er bezeichnete die Kinder damals regelmäßig als „Problem“. Für sie waren es Geschenke Gottes, um die sie sich gerne kümmerte, für die sie bereit war, alles zu opfern und sich freute, dass er sie nicht für sich beanspruchte, sondern dass sie mit ihr gehen durften. Schon als sie schwanger war, sollte sie stets abtreiben. Georg mochte vielleicht nach außen so gewirkt haben, wenn er mit Lars auf den Fußballplatz ging oder Ida auf seinen Schoß hob, aber eigentlich war er kein Familienvater, sondern, wie er selbst sagte, ein „Lebemann“. Ständig auf Achse, ständig am Feiern, gerne in Hamburg auf der Reeperbahn unterwegs. Nina wusste auch, dass er ihr, wenn sie blieb, ihr das Leben immer mehr zur Hölle machen würde, bis sie nicht mehr konnte. Es sei denn, sie wurde wieder still, fügte sich, passte sich an.
Schon jetzt sprach er kaum mehr ein Wort mit ihr. Wenn sie am Wochenende zusammen aßen und Nina etwas sagte, drehte er sich demonstrativ in die andere Richtung. Bei Treffen mit Freunden reagierte er gar nicht mehr auf das, was sie sagte oder lachte nur über ihr „dummes GESCHWÄTZ.“ Vor den Kindern wies er sie zurecht: „Nina, du kannst gerne anderer Meinung sein als ich, aber dann behalte sie einfach für dich. Keiner interessiert sich dafür.“
Als sie endlich eine Wohnung gefunden hatte für sich und ihre Kinder, war sie innerlich so erleichtert, dass sie glaubte, schweben zu können. Sie würde wieder in Ruhe schlafen können, musste keine Angst mehr haben, in welchem Zustand er nach Hause kam, musste sich keine Sorgen mehr machen, dass er täglich mit ihr oder den Kindern aneinander geriet. Sie sehnte sich nach nichts mehr als nach Ruhe und Frieden. Sie würde Lavendel auf ihrer Terrasse anpflanzen. Und sich ins Gras legen, die Augen schließen und Gott danken, dass nun alles vorbei war.
Nina hatte keine Ahnung, dass nach dem Auszug nicht vorbei war. Im Gegenteil. Es war erst der Anfang. Und wenn sie gewusst hätte, welche Lawine danach auf sie zurollte und dass sie nicht nur ihr Zuhause verlieren würde, sondern noch so viel mehr, wäre sie nie gegangen.
2022: Häusliche Gewalt nimmt drastisch zu
Auch vor den Coronapandemiejahren war klar: Es gibt noch immer zahlreiche Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland. Auf dem Land, in der Stadt, quer durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch.[1]
Experten befürchteten einen dementsprechend starken Anstieg häuslicher Gewalt während der Corona-Lockdowns und den damit verbundenen Ausgangssperren. Die offiziellen Zahlen ergaben dann jedoch überraschenderweise ein anderes Bild: Mitarbeiter:innen von Organisationen wie etwa dem Weißem Ring oder von Frauenhäusern verzeichneten nicht wirklich mehr Notrufe in dieser Zeit, obwohl dies eigentlich zunächst befürchtet vermutet wurde. Experten erklärten dieses letzten Endes überraschende Ergebnis damit, dass es vermutlich nicht weniger häusliche Gewalt gab, sondern dass die Opfer schlichtweg viel weniger Gelegenheit hatten, um Hilfe zu rufen, da sie mit dem Täter in einer Wohnung festsaßen. [2] 2022 kam dafür dann der Zahlenschock:
Nach dem Ende der Coronapandemie, ab dem Jahr 2022, schnellten die offiziell gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um satte 10 Prozent nach oben. Das geht aus einem offiziellen Bericht des Bundeskriminalamtes hervor.[3] Als Gründe wurden unter anderem die Coronapandemie, die ihre Spuren hinterlassen hat, genannt, der aktuell tobende Ukrainekrieg sowie die hohe Inflation und der schnell voranschreitende Klimawandel. Noch nie gab es so viele große Krisen gleichzeitig. Überforderung, Ängste, vermeintliche Handlungsfähigkeit, Kontrollverlust und finanzielle Sorgen – manche Menschen greifen aufgrund derartiger Gefühle zur Flasche und / oder üben psychische oder physische Gewalt aus.
Die überwiegende Mehrheit der Täter ist männlich. Nach wie vor gibt es aber eine hohe Dunkelziffer an nicht gemeldeten Gewalttaten im häuslichen Umfeld.
Während es für Betroffene oft nicht nur schwierig ist, sich aus einer Partnerschaft, in der häusliche Gewalt herrscht, finanziell zu befreien – insbesondere, wenn Kinder mit im Spiel sind – ist es überdies für Betroffene schwierig, diese Beziehungstaten nachzuweisen. Täter lügen und manipulieren nicht selten vor Gericht und bei Sachverständigen, um selbst als Opfer wahrgenommen zu werden. Nicht selten findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, wodurch das eigentliche Opfer praktisch auch per Staats wegen nochmal abgestraft wird, etwa in Form von Kindesentzug. Das Problem ist nach wie vor eine große Unerfahrenheit hinsichtlich noch immer weit verbreiteter toxisch-narzisstisch männlich geprägter Familienstrukturen. Nicht selten leben Richter, Sachverständige, Anwälte und Gutachter selbst noch in einem derartigen Familienmuster. Dadurch werden solche Strukturen als „normal“ empfunden und die Person, die sich dagegen wehrt, als „sensibel“, wenn nicht sogar als „labil“ eingestuft.
Es gibt nach wie vor zahlreiche Gerichtsurteile deutschlandweit, in welchen Frauen abgestraft wurden und werden, wenn sie versuchen und versucht haben, sich selbst und ihre Kinder vor derartigen Verhaltensmustern zu schützen. Ihnen wurde und wird unter anderem Entfremdung hinsichtlich der krankhaft narzisstischen Peron vorgeworfen und teilweise dafür sogar in letzter Instanz das Sorgerecht entzogen.[4]
Ein gängiges Argument im Rahmen derartiger Sorgerechtsverfahren vor Familiengerichten lautet etwa: Wenn sich der Partner gegenüber dem Ehepartner gewalttätig verhalten und / oder diesen emotional missbraucht hat, muss er das nicht unbedingt bei den gemeinsamen Kindern tun. Daher sollten Kinder einen „normalen“ Umgang mit diesem Menschen pflegen (Fall Tina Windisch / Interview Bednarek oder Carola Wilcke).
Experten, die sich auskennen mit einem krankhaft-destruktivem, der so genannten malignen Form von Narzissmus, also der bösartigsten, weisen jedoch immer wieder darauf hin, dass es sich hier um ein kaum heilbares Krankheitsbild handelt. Diese Meschen handeln nicht nur krankhaft gegenüber ihrem Partner, sondern es ist ein gängiges Handlungsmuster zur Aufrechterhaltung von Beziehungen. Sie haben gelernt, durch Macht und Kontrolle andere Menschen an sie binden. Dieses Verhalten ist höchst kindeswohlgefährdend und sollte lediglich durch eine strikte Umgangsregelung in Form eines dauerhaften begleiteten Umgangs mit Sachverständigen gelöst werden. Absolut schädlich hiergegen ist, wenn derartig krankhafte Menschen ein massives Umgangsrecht erhalten beziehungsweise zu häufig sogar das alleineige Sorgerecht. Denn entweder verwahrlosen die Kinder bei derartigen Persönlichkeitsstrukturen und/oder werden isoliert in einem machtzentrierten autoritären Umfeld großgezogen, verlieren langfristig fast vollständig den Kontakt zu dem gesunden Elternteil, dessen Familie und Freunde und werden später entweder selbst zu Opfern oder Tätern, da das die einzige Überlebensstrategie ist, die sie gelernt haben. Dadurch weitet sich diese Familienform in der Gesellschaft noch weiter aus. Narzissten arbeiten bezüglich ihrer Kinder massiv mit Manipulation und Entfremdung gegenüber dem anderen Elternteil.
Es tut daher dringend Not, dass Jugendämter, Sachverständige, Gutachter und Richter die vermeintlich toxischen Strukturen frühzeitig erkennen und dementsprechende Lösungen in die Wege leiten, um Kinder optimal zu schützen. Die Kinder leben vermutlich ebenfalls mit einer hohen Wahrscheinlichkeit schon diese massive Form der Zuckerbrot-und-Peitsche-Beziehung mit dem kranken Elternteil. Hier ist es besonders wichtig, den Kindern wieder Selbstwert zu vermitteln und dass ihre Stimme und ihr Bauchgefühl wichtig ist, dass sie sich trauen, sich kritisch oder eigene Gedanken laut zu äußern, die nicht dem Willen des toxischen Elternteils entsprechen und dass sie darüber hinaus wundervolle, eigenständige Persönlichkeiten sind und kein Abziehbild des toxischen Elternteils, auch wenn dieser das gerne hätte.
Wenn man an häusliche Gewalt denkt, denken die meisten Menschen zunächst an Schläge, blaue Flecken, blaue Augen. Doch viel häufiger und mindestens genauso schädlich ist die psychische Gewalt, die in der derartigen Beziehungsmistern tagtäglich gelebt wird in Form von Unterdrückung, Abwertungen, dem Extremen Ausüben von Macht und Kontrolle, Erniedrigung und emotionaler Erpressung.
Emotionale Gewalt ist jedoch zum einen in der Regel schwerer nachzuweisen als physische Gewalt. Hinzu kommt, dass Außenstehende kaum nachvollziehen können, wie belastend diese Form von Gewalt für Opfer ist. „Wehr dich doch“, heißt es schnell. Oder: „Das würde ich mir nicht gefallen lassen.“ – „Die ist doch selbst schuld, wenn sie das mit sich machen lässt.“ Ich wähle hier bewusst die weibliche Form, weil Frauen prozentual häufiger betroffen sind von emotionaler Gewalt als Männer.
Experten raten Opfern nach einer Trennung von einem hochtoxischen Partner, idealerweise die größtmögliche Distanz aufzubauen und einen Kontaktabbruch. Viele ziehen weg. Wenn man Kinder mit einem solchen Menschen hat, ist das kaum möglich, droht durch einen derartigen Wegzug nicht selten erst recht der Verlust der Kinder, da Gerichte nach wie vor oftmals das konstant bleibende soziale Umfeld als wichtiger erachten als das Wohl des Kindes (siehe Fall Tina Windisch und Fall Eva Reinhardt, Frau zog weg und verlor deswegen beide Kinder), mit gesunden Menschen aufwachsen zu dürfen, ohne Manipulation und dem massiven Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip. Eine Beziehung zu einem toxischen Elternteil löst immer eine Achterbahnfahrt der Gefühle aus. Das Zuckerbrot-und-Peitsche-Spiel ist zwar nicht gut für die kindliche Psyche, aber bindet ungemein an den toxischen Menschen. Dadurch stellt sich mittelfristig das Gefühl ein: „Die Welt ist Chaos, es sind böse Menschen unterwegs. Aber bei Papa beziehungsweise Mama bin ich sicher. Auch wenn dieser / diese manchmal übergriffig wird / mich ständig abwertet / beleidigt / ausrastet und / oder mich häufig alleine lässt.“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser wollte nach der Veröffentlichung der BKA-Zahlen bezüglich Häuslicher Gewalt im Jahr 2023 Opfer von Gewalt ermutigen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber Betroffene wissen, dass das kaum möglich ist, ohne dass massive Konsequenzen des toxischen Expartners drohen wie Strafanzeigen, Drohungen, Rufmord oder schlimmeres. Denn: Ein toxischer Mensch setzt (fast) alles daran, seinen polierten Ruf nach außen aufrechtzuerhalten. Dafür ist ihm fast jedes Mittel Recht.
Auch Familiengerichte werten den Gang in die Öffentlichkeit häufig als negativ und letztendlich schädlich für das Kindeswohl, etwa in dem schier unglaublichen Fall einer Akademikerin aus Bayern, der 2022 ihre beiden Kinder, darunter ein Säugling entzogen und dem Vater übergeben wurden, weil diese vehement behauptet hat, seine Frau, di sich von ihm getrennt hat, sei labil. Alleine diese Behauptungen, die alle mit diversen Gutachten widerlegt werden konnten, reichten aus, um dem Vater das Sorgerecht für beide Kinder zu übertragen. Die Frau ging mehrfach vor Gericht und wandte sich an die Presse. Dafür wurde sie jedes Mal gerügt. Und damit steht sie nicht alleine da. (Der Fall Margarethe Katz).[5]
Hinzu kommt, dass es nach wie vor auch im Jahr 2023 in Deutschland nach viel zu wenig Frauenhausplätze in Deutschland gib. Rund 14.000 Plätze fehlen laut dem ZDF bundesweit bereits aktuell im Jahr 2023.[6] Bundesinnenministerin Nancy Faeser setzt sich für weitere Plätze ein, doch bis diese geschaffen werden, wird es noch Jahre dauern. Zudem sind diese Plätze für die Hilfe suchenden Frauen auch nicht kostenlos. Frauen, die mit Kindern vor solchen Menschen flüchten, dürfen in der Regel nicht in ein Frauenhaus, das mehrere hundert Kilometer entfernt ist, sondern müssen in dem Kreis bleiben, in dem sie leben. Dadurch gibt es häufig mittelfristig eben doch kein Entkommen und damit keine Chance auf einen Neuanfang. Auf dem Dorf ist das häufig ein Problem. Denn: Anonym ist hier letztendlich niemand. Mit Kindern in ein Frauenhaus zu flüchten, das weiter entfernt ist, kann damit enden, dass der toxische Partner eine Strafanzeige wegen Kindesentzuges stellt und schlimmstenfalls am Ende dadurch das Sorgerecht zugesprochen bekommt.[7] Wir sprechen hier quasi von einem Teufelskreis. Das Opfer möchte mir ihren Kindern vor dem psychisch auffälligen Täter flüchten, darf aber dabei nicht zu weit weg gehen, sonst kann es sein, dass sie als Täterin gesehen wird, die ihrem Expartner die Kinder vorenthält.
Hinzu kommt: Bei Frauen, die im wahrsten Sinne grün und blau geschlagen wurden, ist die häusliche Gewalt offensichtlich. Bei emotionaler Gewalt herrscht teilweise noch große Unsicherheit, inwieweit Frauenhäuser hier Schutz bieten dürfen. Denn nachweisbar ist emotionale Gewalt kaum. Wir haben diverse Frauenhäuser bundesweit zu Recherchezwecken für dieses Buch im Jahr 2022 angerufen. Sieben von zehn Frauenhäusern waren zu diesem Zeitpunkt voll, konnten weder einen Platz anbieten, noch eine Alternative nennen. Ein Frauenhaus verwies auf einen freien Platz in voraussichtlich drei Tagen. Die Mitarbeiterin war sich aber nicht sicher, ob emotionale Gewalt „ausreiche“, aufgenommen zu werden. Wenn ein anderer „Fall“ dazwischenkommt mit einer „höheren Dringlichkeit“ werde man sich vermutlich diesem annehmen. Eine Sachbearbeiterin eines weiteren Frauenhauses verwies darauf, dass ein Platz frei sei, dass man jedoch, wenn man Kinder mitbringe, in das Frauenhaus direkt in dem Kreis, in dem man wohnt, gehen müsse. Sonst könnte es rechtliche Probleme und Probleme mit dem Kindsvater geben. Eine Sachbearbeiterin eines weiteren Frauenhauses nannte, weil sie aktuell keine freien Plätze habe, weitere Kontakte, Anlauf- und Beratungsstellen für eine schnelle Lösung. Die möglichen Anlauf- und Beratungsstellen deutschlandweit werden am Ende dieses Buches ebenfalls gelistet. Das Problem: Es gibt zahlreiche Anlauf-, Beratungs- und Kontaktstellen für Frauen in Not, aber viele davon sind entweder ganz allgemein gehalten wie etwa Sorgentelefone oder aber so spezifisch, dass sie nur für einen bestimmten Kreis in einem Bundesland Ansprechpartner sind. Eine flächendeckende, einheitliche, erste Anlaufstelle mit einer guten Vernetzung zu den Angeboten in den einzelnen Bundesländern und Kommunen täte hier Not.
[1] https://www.gschwaetz.de/2020/03/09/doerrenzimmern-eine-frau-wurde-zu-boden-gestossen-getreten-und-gewuergt-andrea-buehler-spricht-ueber-haeusliche-gewalt-auch-auf-dem-land-ein-thema/
[2] https://www.gschwaetz.de/2020/06/09/weniger-gelegenheit-sich-hilfe-zu-holen/
[3] https://www.gschwaetz.de/2023/07/11/kein-hartz-4-problem/
[4] https://www.gschwaetz.de/2023/05/03/hier-versagt-ein-ganzes-system/
[5] https://www.gschwaetz.de/2023/06/28/unglueckliche-kettenreaktion-loeste-vermutlich-derart-grossen-polizeieinsatz-aus/
[6] Zu wenig Plätze: Frauenhäuser am Limit – ZDFheute
[7] https://www.gschwaetz.de/2023/06/09/wenn-der-partner-die-kontrolle-ueber-den-anderen-partner-verliert-gibt-er-ihn-zum-abschuss-frei/