Im Monat September 2022 lag die Inflationsrate bei 10 Prozent, das hat das Statistische Bundesamt destatis am gestrigen Donnerstag, 13. Oktober 2022, veröffentlicht. Das bedeutet, dass die Preise gegenüber dem Monat September 2021 um 10 Prozent angezogen haben. An eine derart hohe Preissteigerung kann sich kaum noch jemand erinnern, in der Geschichte der Bundesrepublik ist das einmalig.
GSCHWÄTZ hat schon in früheren Beiträgen darauf hingewiesen, dass die Inflationsrate allein keine Aussage darüber ist, wie sehr die Menschen von den Preissteigerungen beeinträchtigt werden. Wer wenig Geld hat und dieses Geld nahezu ausschließlich für elementare Güter wie Nahrungsmittel und Kleidung ausgeben kann, für den sind die Preissteigerungen anderer Waren wenig interessant.
Tweet Marcel Fratzscher.
Der Ökonom Marcel Fratzscher, Professor für Makroökonomie und Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), meldet sich üblicherweise im Wirtschaftsteil der großen Tages- und Wochenzeitungen zu Wort, ist auch oft in spätabendlichen Talkrunden zu sehen. Dass er sich jetzt mit eindringlichen Worten bei twitter äußert, ist ungewöhnlich:
Sozialer Sprengstoff
Er nennt die Preissteigerungen einiger unverzichtbarer Güter wie Energie und Grundnahrungsmittel – und siehe da: Die Preissteigerung gegenüber dem Vorjahr liegen bei diesen Produkten weit über der durchschnittlichen Inflationsrate von 10 Prozent und er nennt das einen „sozialen Sprengstoff“.
In der Tat sind bereits Menschen auf der Strasse, die gegen die Inflation demonstrieren – dass sie dies mit russischen Fahnen tun, ist wohl eine deutsche Besonderheit. Noch reden auf diesen Demonstrationen dieselben Redner, die schon gegen die Corona-Maßnahmen angeredet haben, auch unter den Demonstrierenden erkennt man Anti-Corona-Massnahmen-Aktivisten wieder.
Spaltung: bitterarm – halbwegs vermögend
Wenn aber Menschen in wahre Existenznot geraten, dann ist mit größeren Teilnehmerzahlen und mit ganz neuen sozialen Strukturen zu rechnen. Eine weitere Spaltung der Gesellschaft, diesmal zwischen bitterarm und noch halbwegs vermögend, wird dann stattfinden. Denn die Interessen dieser Gruppen stehen sich dann entgegen. Das ist zu befürchten, wenn nicht umgehend Massnahmen direkt gegen die Inflation oder zur Unterstützung der Bevölkerung ergriffen werden.
Der Markt ist nicht rational
„Das regelt der Markt“ ist eine oft gebrauchte Floskel, die vor allem von neoliberalen Ökonomen und Politikern genannt wird. „Der Markt“, das sind aber Menschen, die an Schaltstationen Entscheidungen treffen und die – das zeigen verhaltensökonomische Forschungen – in der Regel sehr eigennützig handeln, weder unbedingt im Sinne Ihres Unternehmens und schon gar nicht immer zum Wohle der Gesamtgesellschaft. So wird der leitende Manager eines Energiekonzerns, dessen Incentive umsatzbezogen ist, höhere Preise gerne sehen, weil er seine Prämie damit leichter erreichen kann.
„Der Markt“, das sind aber auf der anderen Seite auch Menschen, die gar nicht mehr in der Lage sind, Auswahlentscheidungen darüber zu treffen, was sie konsumieren. Sie sind gar nicht in der Lage, unter verschiedenen hochwertigen Schuhen auszuwählen: Sie sind gezwungen, sich aus den Angeboten der Discounter zu bedienen. Auch wenn ein hochwertiger Schuh möglicherweise ökonomischer wäre, haben sie das Geld nicht, eine solche ökonomische Entscheidung zu treffen.
Mit Neoliberalen Methoden kommt man nicht weit
Die wichtigste Grundannahme des neoliberalen Wirtschaftsmodells, die Rationalität aller Marktteilnehmer, ist damit nicht erfüllt, man kann also sagen: Mit neoliberaler Wirtschaftspolitik kommt man in der heutigen Situation nicht mehr weit.
Preistreiberei im Spiel
Das Beispiel des Energie-Managers ist nicht zufällig gewählt, denn gerade bei Energiekonzernen zeigt sich, dass sie Gewinner der Inflation sind: Sie schreiben derzeit besonders hohe Gewinne. Gewinn ist das, was nach Abzug aller inflationsbedingt gestiegenen Kosten übrig bleibt. Wenn also trotz gestiegener Einstandspreise die Gewinne der Energie- und Rohstoffproduzenten auf Rekordniveau sind, dann ist dieser Rekordgewinn ein Inflationstreiber. Energie ist ein Kostenfaktor in der Kalkulation bei jedem Unternehmer, der ein Produkt oder eine Dienstleistung herstellt und auf dem Markt anbietet.
Staatlicher Eingriff in den Markt
Aber dieser Inflationstreiber ist sehr wohl steuerbar. Wenn die Unternehmen dies nicht selber tun, wenn das der Markt eben nicht regelt -, dann können die Regierungen diese außergewöhnlichen Gewinne besteuern, die sogenannte Übergewinnsteuer. Nachdem deutsche Politiker eine Übergewinnsteuer lange Zeit als Ding der Unmöglichkeit erklärt haben, auch noch als sie in Spanien bereits eingeführt war, sind sie inzwischen davon begeistert: „Wir werden sie in Deutschland schnell umsetzen“, sagt Wirtschaftsminister Habeck inzwischen.
Nicht die ultima ratio
Das ändert aber nichts daran, dass die Energie weiterhin zum hohen Preis an die Industrie und die Bürger:innen verkauft wird, das Geld also erst einmal fließt und die Industrie weiterhin mit hohen Energiepreisen kalkulieren und ihre Produkte zu einem hohen Preis verkaufen müssen. Erst im Anschluß können die Mittel, die durch die Übergewinnsteuer an den Staat gehen, über Unterstützungsprogramme an Bürger und Produzenten weitergegeben werden – ein bürokratischer Aufwand, der noch gar nicht abzusehen ist. Außerdem dürfte doch das ein oder andere Unternehmen insolvent sein, bis die Programme bei ihm ankommen.
Privatisierung von Grundversorgung war vielleicht doch nicht die richtige Lösung
Eine wichtige Voraussetzung, die eine solche Situation erst entstehen lassen konnte, waren die Privatisierungswellen von Unternehmen der bis dahin größtenteils staatlichen oder staatlich gesteuerten Grundversorgung. Strom, Gas, Telekommunikation – alles wurde vom Staat gegen eine Einmalzahlung, die längst verpufft ist, an Privatunternehmen verkauft: aus einem staatlich kontrollierten Monopol mit all seinen Schwächen wurden privat organisierte Oligopole mit ganz neuen Schwächen, die einen Scheinwettbewerb führen, im Endeffekt aber für gute Renditen der Kapitaleigner sorgen.
Direkte Preisregelung durch den Staat
Insofern wäre eine direkte Preiskontrolle des Staates für Elementargüter, was von vielen als „der Weg in den Kommunismus“ bezeichnet wird, wahrscheinlich der bessere Weg, die Inflation einzudämmen: Damit wäre der komplette Markt mit Energie und anderen Elementargütern zu überlebensfähigen Preisen versorgt, die Preise wären nicht so stark energiebelastet und könnten deutlich stabiler sein als sie es heute sind. Hätte der Staat noch Eigentum an derartigen Unternehmen, wäre das recht einfach umsetzbar: Diese Unternehmen könnten zum gewollten Preis anbieten – den Rest „regelt der Markt“. Diese Einflußmöglichkeit hat sich der Staat genommen – im Tausch gegen eine einmalige Zahlung, die sofort in den Haushalt eingeflossen und schon lange ausgegeben ist.
Text: Matthias Lauterer