Samstag vormittag, den 04. Mai 2022, kurz vor acht Uhr am Bahnhof Hessental. Der Bahnsteig ist gut gefüllt, alle schauen nach links, ob der Zug von Stuttgart nach Nürnberg nicht bald kommt. Manche sind mit schwerem Gepäck und mit der ganzen Familie unterwegs. Es herrscht eine freundliche Atmosphäre, jemand warnt uns vor Scherben auf der Treppe zur Unterführung.
In loser Folge berichtet GSCHWÄTZ-Redakteur Matthias Lauterer über seine Erlebnisse beim Reisen mit dem 9€-Ticket. Im Zentrum sollen dabei die Menschen stehen, die ihm begegnen, aber auch seine ganz subjektiven Eindrücke und die kleinen Splitter am Wegesrand. |
Der Bahnhof in Hessental ist bunt geworden. Foto: GSCHWÄTZ
Trinkwasser gibt es hier nicht mehr. Foto: GSCHWÄTZ
Ausgequetschtes Wortspiel: Das 9€-Ticket in vollen Zügen genießen
Und dann kommt der gelbe Zug in Sicht – und beim Einfahren werden die Gesichter der Wartenden länger und länger: Der Zug ist ja schon voll. Sitzplätze sind nicht mehr zu erwarten. Der Zug ist wirklich voll, selbst beim Stehen findet nicht mehr jeder einen Halt. Die Idee, nach Nürnberg zu fahren, hatten wohl auch andere – kein Wunder: an diesem Wochenende findet in Nürnberg auch das Festival „Rock im Park“ statt.
Aber, so die trügerische Hoffnung: In Crailsheim werden bestimmt viele aussteigen. Weit gefehlt: Immerhin, es steigen drei Fahrradfahrer aus, wir ergattern zumindest einen Klappsitz. Und mit jedem Bahnhof wird es voller, bis der Zugführer durchsagt, dass es zu voll ist und der Zug nicht weiterfahren kann, wenn sich nicht einige Fahrgäste erbarmen und aussteigen. Nach ein paar Minuten geht es weiter.
Ein alter Liedtext von Mike Krüger kommt in den Sinn: „Und wenn man richtig was erleben will, dann darf man nicht sparn, dann muss man Samstag fahrn, wenn alle fahrn.“ Er sang damals ironisch vom Vergnügen des Ferienstaus auf der Autobahn.
Mitreisende beobachten kann auch Spaß machen
Gespräche mit Mitreisenden kommen nicht in Gang, jeder ist mit sich selber und seinem Gleichgewicht beschäftigt. Aber das Beobachten der Fahrgäste ist auch amüsant:
Die Gruppe junger Männer, die über den ganzen Wagen verstreut ist, läßt Bier durch den Waggon weiterreichen. Alle sind freundlich und hilfsbereit, aber die freundlichen Menschen kriegen nichts ab. Nur einer nimmt sich wohl seinen Teil, denn plötzlich gibts Gelächter und von weiter vorne brüllt einer: „Der hods klaut!“. Kein Problem, eine neue Flasche geht auf die Reise, es ist noch genug da. Zumindest für die Gruppe.
Oder die in diesem Umfeld etwas deplatziert wirkende Frau um die 50, gestylt, mit schickem Kamelhaarmantel, darunter modisch-zerfetzte eng anliegende Hosen, und den überlangen grünen Fingernägeln. Sie versucht zu telefonieren, aber in der fränkischen Landschaft findet sie kein Netz. Das SMS-Schreiben bereitet ihr sichtlich Schwierigkeiten, die Fingernägel stören doch erheblich. Wer schön sein will, muss leiden, sagt das Sprichwort.
Interessante Gespräche ergeben sich erst in der Stadt:
Rose und Bill aus Indiana
Rose und Bill aus Indiana. Foto: GSCHWÄTZ
Beim Kaffeetrinken auf dem Hauptmarkt, fragt ein älterer Herr, ob er sich auf einen freien Stuhl setzen darf. Es ist Bill aus Indiana, seine Frau Rose kauft derweil am benachbarten Stand schonmal ein Crêpe. Sie erzählen, dass sie mit einer Flußkreuzfahrt unterwegs sind. Bill schwelgt in Jugenderinnerungen und berichtet davon, dass er in seiner Jugend mit seinem Vater schon einmal in Nürnberg war. Die beiden teilen sich mit Genuß das Crêpe mit Schokocreme, immer wieder findet der Pappteller den Weg von ihm zu ihr und zurück. Sie strahlen innere Zufriedenheit aus. Man wird traurig, wenn man sich überlegt, ob es wohl ihre letzte große gemeinsame Reise sein wird? Wie alt sie sind, sagen sie nicht – nur soviel: Sie sind seit 65 Jahren verheiratet.
Der Nachtzug von Helsinki
Als ich ihm vom übervollen Zug erzähle, kann Bill das noch toppen: Er berichtet von einem Nachtzug aus Helsinki, in dem er schlafen wollte – aber die ganze Zeit stehen mußte. Dass es sowas wie ein 9€-Ticket gibt, erstaunt ihn – von so etwas habe er noch nie gehört.
Die beiden können nicht mehr allen Unternehmungen der Gruppe folgen, zwischendurch kommt der Reiseleiter und stimmt mit ihnen ab, dass er sie nachher hier zum Mittagessen abholen wird, nachdem die Gruppe noch etwas besichtigt hat. Wir können weiterplaudern.
Ob ich zum Abschluß ein Bild machen darf, fürs GSCHWÄTZ? Aber natürlich, die Tochter sei schließlich auch Journalistin, in Detroit. Und wieder kommt Bill ins Erzählen: Da wollte die Tochter zwar nie hin, aber nun sei sie da und es gefalle ihr gut.
Später sehen wir die beiden noch einmal aus der Entfernung, als sie mühsam die Treppen zu einem Restaurant steigen. Es bereitet ihnen Mühe, aber sie machen immer noch denselben zufriedenen Eindruck.
Nürnberg – Stadt der Gegensätze
Auffällig in Nürnberg sind die sozialen Gegensätze. Immer wieder sind Bettler zu sehen, liegen Menschen auf Parkbänken und versuchen zu schlafen, ihre Habseligkeiten neben sich. Direkt nebenan sind Kaufhäuser, teils aus dem hochpreisigen Segment, Cafés mit hippen Getränken. Der Kontrast scheint hier symbolhaft zusammenzugehören: Das Event liegt direkt neben der Armut.
Event und Armut liegen in der Nürnberger Innenstadt dicht beieinander. Foto: GSCHWÄTZ
In der gesamten Stadt betteln Menschen um Almosen. St. Klara. Foto: GSCHWÄTZ
Der Kontrast ist auch architektonisch das eigentliche Wahrzeichen Nürnbergs: Nachdem im zweiten Weltkrieg kaum ein Stein auf dem anderen blieb, sind in der Altstadt nur wenige Gebäude noch im Original erhalten. Stattdessen findet man ein Architekturgemisch, in dem alle Strömungen der Architektur seit den 50ern erkennbar sind – und man muss nicht alles schön finden, was damals gebaut wurde.
Das Nürnberger Rathaus ist ein typischer Verwaltungsbau aus den 50er Jahren, das Hotel links nimmt die Form eines mittelalterlichen Lagerhauses auf. Foto: GSCHWÄTZ
The Brezn Concept Store. Ein hipper Glasbau. Foto: GSCHWÄTZ
Die Rückfahrt verläuft ereignislos
Als der Zug zur Rückfahrt in Nürnberg einläuft, steigen wir an der vordersten Tür ein und setzen uns in Fahrtrichtung. Was hinter uns los ist, sehen wir nicht. Erst beim Aussteigen in Hessental – der Zug war pünktlich! – merken wir, dass auch jetzt Menschen stehen mussten – wenn auch bei weitem nicht so viele wie auf der Hinfahrt.
Die Scherben auf den Stufen liegen immer noch.
Text: Matthias Lauterer