Handküsschen für den Angeklagten
Ein Paukenschlag zu Beginn hätte am 10. November 2022 den Prozess um den Drogenhandel der beiden Künzelsauer Angeklagten platzen lassen können: Der bisherige psychiatrische Gutachter war so schwer erkrankt, dass er an diesem und den beiden weiteren geplanten Verhandlungstagen nicht mehr teilnehmen kann. Der Gutachter sollte seine Einschätzung darüber abgeben, ob für einen oder beide Angeklagten ein sogenannter Maßregelvollzug nach §64 StGB in Frage kommt. Dazu müßte einerseits eine Suchtkrankheit, andererseits eine Therapiefähigkeit bescheinigt werden. Im Massregelvollzug nach §64 StGB wird ein verurteilter Straftäter im Rahmen des Strafvollzugs für eine Entzugstherapie nicht in der JVA, sondern in einer Entzugsklinik behandelt.
Das Gericht schlug den Verteidigerinnen nun eine neue Gutachterin vor, „Psychiater sind selten“. Nach einer längeren Beratungspause stimmten die drei Anwältinnen der Angeklagten der neuen Gutachterin zu. Sie muss nun kurzfristig intensiv mit den beiden Angeklagten sprechen, denn sie soll schon am nächsten Verhandlungstag ihre Einschätzung vortragen.
Handküsschen für den Angeklagten
Zu dieser Beratungspause werden die Angeklagten wieder mit Handfesseln aus dem Saal gebracht. G.s Mutter, die zusammen mit einigen Freunden G.s die Verhandlung verfolgt, sucht den Blickkontakt zu ihrem Sohn, wirft ihm ein Handküsschen zu. Sie schaut traurig.
Und es folgen weitere Paukenschläge
Und mit weiteren Paukenschlägen ging es nach der Unterbrechung weiter:
Die Anwältinnen baten Richter Haberzettl darum, eine vorläufige Einschätzung des Gerichts zu eventuell möglichen Strafen abzugeben. Im Konjunktiv und unter der Voraussetzung, dass ein umfassendes Geständnis abgegeben wird, schätzte Richter Haberzettl das Strafmass für den Angeklagten R. auf eine Größenordnung von etwa sechseinhalb Jahren ein. Die Anklagepunkte Erpressung, schwerer Raub und die Tatsache, dass R. bewusst einen Minderjährigen zum Dealen angestiftet oder sogar gezwungen haben soll, lassen keine geringere Strafe zu. Sollte R. nicht vollumfänglich gestehen, „können Sie sich auch als Laie vorstellen, welche Zahl da stehen kann“, meint Haberzettl.
Beim Angeklagten G. will sich Haberzettl noch nicht festlegen. Erst muss die Rolle von G. in einem geplanten 20kg-Deal geklärt sein: Hatte G. nie wirklich geplant diesen Deal durchzuziehen oder war er an diesem Deal maßgeblich beteiligt? Haberzettl sagt zur Strategie des innerlichen Rückzugs deutlich: „Das hören wir oft, glaubhaft ist es selten. Das ist riskant“. Dem Angeklagten und seiner Verteidigerin Anke Stiefel-Bechdolf ist das bewußt.
Vollumfängliches Geständnis von R.
Kristina Brandt, die Anwältin von R., gibt danach eine Erklärung im Namen ihres Mandanten ab: Sämtliche vorgeworfenen Taten werden von R. eingeräumt. Allerdings legt er Wert darauf, dass es niemals zu einer gemeinsamen Tat zusammen mit G. gekommen sei. R. hat die Erklärung seiner Anwältin verstanden und erklärt, dass das seine Erklärung sei. Weiter Fragen möchte er nicht beantworten. „Die Erklärung ist abschliessend“, teilt Brandt mit.
Teilgeständnis von G.
Auch Stiefel-Bechdolf verliest eine Erklärung ihres Mandanten, in der er viele der Anklagevorwürfe einräumt. Einige Vorwürfe stellt er anders dar als die Anklageschrift: So will er einen 50-Gramm-Deal mit verdeckten Ermittlerinnen, der ihm vorgeworfen wird, nicht als solch großes Geschäft begriffen haben. Geliefert hat er in der Tat nur eine „Probemenge“ – so drückt er es aus – von einem Gramm. Auch den schwersten Vorwurf, die Absprache einer Lieferung von 20 Kilogramm Marihuana, will er entkräften: er habe den Deal nicht wirklich durchführen wollen, sei in der Situation von seinen Kontaktleuten in eine Rolle gedrängt worden, die er nie einnehmen wollte. Und in einem Fall habe er statt Geld ein Kilo Amphetamin von einem Kunden erhalten. Dieses habe er später vernichtet, ein Weiterverkauf sei nicht geplant gewesen. Und auch G. legt Wert darauf, dass es nie eine gemeinsame Tat mit R. gegeben habe. G. will Angaben zur Sache machen, Richter Haberzettl stellt diese Befragung aber noch zurück, weil die Angaben teilweise der Aktenlage widersprächen und will erst die Zeugen hören.
„Zwei unterschiedliche Menschen“
Als erste Zeugin wird die Sozialpädagogin W. aufgerufen. Sie hat R. im Rahmen der Jugendhilfe bis 31. März 2019 betreut, anschließend in einer Nachbetreuungsphase bis Ende Juli 2020. Sie habe ihm noch eine Wohnung, „nein, es war nur ein Zimmer“ vermittelt und ihm angeboten, ihn auch zukünftig, etwa bei Behördengängen zu unterstützen. So habe sie auch von seiner Verhaftung erfahren: Ein Termin bei der Arbeitsagentur, den sie mit ihm wahrnehmen wollte, wurde wegen der Inhaftierung abgesagt.
Sie berichtet, dass R. bereits einmal wegen BTM-Delikten vor Gericht stand, Genaueres sagt sie nicht aus. Sie habe die Betreuung von R. übernommen, nachdem eine Kollegin von ihr „keine Arbeitsbeziehung“ aufbauen konnte. „Mit mir hat das funktioniert.“ Sie hat R. gut kennengelernt, beschreibt ihn als „zwei unterschiedliche Menschen“. Zum einen der „ordentliche, angepaßte, der alles richtig machen will“. Zum anderen einen aggressiv aufbrausenden Menschen an der Schwelle zur Gewalt.
„Ich hab geglaubt, ich les nicht richtig“
Trotzdem sagt sie „Ich hab geglaubt, ich les nicht richtig, als ich die Tatvorwürfe gelesen habe“. Ihre Aufgabe sei es, den jungen Menschen eine Perspektive zu verschaffen, „es war aber schnell klar, dass so einfach nicht funktioniert“. R. sei nach ihrem Eindruck durch den Krieg traumatisiert, habe mit etwa 14 Jahren den Krieg hautnah erfahren müssen und sei ja auch verwundet nach Deutschland gekommen. „Er hat viel geredet über das, was vorgefallen ist“. Sie berichtet von Schwierigkeiten in Schule und Praktikum, beide Male habe er abgebrochen, er entwickle Aggression, „wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt“. Sie habe den Eindruck gewonnen, dass er Druck vonseiten seiner Familie in der Heimat empfunden habe. Die Geschwister seien teils studiert, seien erfolgreich. Er habe vielleicht der Familie Erfolg vorweisen wollen, habe sich vielleicht eine Scheinwelt aufgebaut.
„Mit viel Begleitung“
„Wenn man ihm hilft, kann er dann zurechtkommen?“ fragt der Richter. W. antwortet nach ein wenig Überlegung: „Mit viel Begleitung“. Sie sieht die Notwendigkeit, dass er den Hauptschul- und gegebenfalls den Realschulabschluß nachholen müsse. Sie sagt das selbstverständlich, hat offenbar keine Zweifel, dass er das schaffen kann. Auch eine Traumatherapie sei wohl vonnöten.
Von Drogensucht nichts bemerkt
Etwas verwundert ist W. bei der Bemerkung des Richters „also dreimal Hilfe: Arbeit, Drogen und Trauma“. Sie habe nie Drogen bemerkt, R. habe sich selbst das Rauchen abgewöhnt und „hat nie Alkohol getrunken“.
W. bleibt nach ihrer Aussage im Saal, die Wachtmeister erlauben ihr, in einer kurzen Pause ein paar Worte mit R. zu sprechen – wenn sie nicht über Smalltalk hinausgehen. Er scheint ihr zu vertrauen, seine Körperhaltung, die ansonsten distanziert ist, ändert sich. Er scheint froh zu sein, dass er wenigstens eine vertraute Person um sich hat, die ihn nicht vergessen hat und die ihm zur Seite steht.
„Er ist alt genug, er hat ja Hilfe“
Seine Familie – mindestens zwei Brüder und ein Onkel sind in Deutschland, ein Bruder wohnt sogar in Künzelsau – hat ihn bisher nicht in der Haft besucht, war auch nicht im Gericht anwesend. Warum es keinen Kontakt gebe, fragt eine Schöffin. Das wisse sie nicht, antwortet W. Sie hat zwar Kontakt aufgenommen, aber einer der Brüder meinte nur etwas wie „er ist alt genug, er hat ja Hilfe“.
Ein zweiter Beitrag zum dritten Prozesstag wird sich mit den Aussagen der Polizeizeugen befassen, insbesondere mit dem Einsatz der verdeckten Ermittler:innen. Es wird von weiteren Paukenschlägen zu berichten sein.
Text: Matthias Lauterer