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„Wenn wir eine gesellschaftliche Aufgabe mitübernehmen, dann muss sich der Staat auch beteiligen“

Die Inflation schlägt zu und sie schlägt vor allem bei denen zu, die ohnehin schon wenig Geld haben. Bei vielen Menschen ist, so sagt es ein gar nicht so lustiger Spruch, am Ende des Geldes noch zuviel Monat übrig. Gerade Lebensmittel sind deutlich stärker im Preis gestiegen als der Gesamtwarenkorb des destatis, der sich am Bedarf  einer Durchschnittsbevölkerung mit einem durchschnittlichen Einkommen orientiert.

Tafeln als Alternative zum Lebensmittel-Laden

So bleibt immer mehr Menschen nur noch der Weg zur Tafel, um Lebensmittel für den täglichen Bedarf zu kaufen. Doch auch dort ist die Situation kritisch. Große Discounter haben in den vergangenen Jahren die Tafeln zuverlässig mit Lebensmitteln beliefert – inzwischen vermarktet beispielsweise Lidl überschüssige Lebensmittel aktiv selbst und bietet im Markt sogenannte Rettertüten zu einem ermäßigten Preis an. Diese Lebensmittel kommen nicht mehr bei den Tafeln an.

Situation der Tafeln ist kritisch

Die Tafeln wissen: „Die Lebensmittelspenden gehen generell zurück. Zum Teil bestellen Lebensmittelhändler weniger Waren, damit die Verschwendung von Lebensmitteln verringert wird. Dies finden wir grundsätzlich gut, da es seit der Gründung eines unserer Hauptziele ist, die Lebensmittelverschwendung zu minimieren. Jedoch kommen immer mehr Menschen zu den Tafeln und dort werden Lebensmittelspenden benötigt“, teilt Pascal Kutzner, Stellvertretender Pressesprecher des Vereins Tafel Deutschland, mit: „Wir bemerken einen deutlichen Anstieg bei unseren Kundinnen und Kunden, dazu kommen in den vergangenen Monaten auch vermehrt Geflüchtete aus der Ukraine. Unsere über 60.000 Helferinnen und Helfer geben vor Ort ihr Möglichstes, um die entsprechende Unterstützung zu leisten.“

Infoblatt Tafel Öhringen

Wahrnehmung der Tafeln hat sich verschoben

Thomas Kallerhoff, Dienststellenleiter der Diakonie in Künzelsau, verweist ebenfalls auf die ursprüngliche Zielsetzung der Tafeln, Überschüsse zu verwerten: „Das Ziel der Tafeln ist es ja ursprünglich, den Überschuß sinnvoll zu verwerten und die Verschwendung zu verhindern. Wenn der Handel die Verschwendung stoppt, dann ist das wünschenswert. Was Lidl macht, ist in Ordnung, das ist effektiv“, sagte er bereits im April zu GSCHWÄTZ.

Quasi-staatliche Armenspeisung

Auf der anderen Seite haben sich die Tafeln in den letzten Jahren derart gut organisiert, dass sie nicht nur von den Menschen, sondern auch von der Politik als fast schon offizielle Armenspeisung wahrgenommen werden. Beispielsweise sagt in einem Beitrag des ARD-Magazins Fakt die Oberbürgermeisterin der Stadt Torgau, Romina Barth, ganz selbstverständlich, dass sie Bedürftige an die Tafel verweist, denn „dazu ist die soziale Struktur einfach da. […] Schauen Sie, wenn jemand auf mich zukommt und sagt, ich möchte Fußball spielen, sag ich ja auch nicht, ich brings Dir im Rathaus bei“.
Eine staatliche Verpflichtung zur Unterstützung des Fußballsports gibt es nicht, wohl aber eine Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens.

„Dann muß sich der Staat auch beteiligen“

„Nein, das ist nicht die Aufgabe der Tafel, das ist die Aufgabe des Staates“, widerspricht Jochen Brühl, Vorsitzender des Vereins Tafel Deutschland e.V., dann auch der Oberbürgermeisterin und sagt: „Wenn wir eine gesellschaftliche Aufgabe mitübernehmen, dann muss sich der Staat auch beteiligen“. Das tut der Staat allerdings nur zu einem kleinen Teil, die Finanzierung der Tafeln wird größtenteils von den Einnahmen durch den Warenverkauf getragen, die Waren selber werden größtenteils gespendet, beispielsweise von Lebensmitteldiscountern. Der komplette FAKT-Beitrag ist in der ARD-Mediathek abrufbar.

„Wir appellieren an die Politik, dass sich etwas verändern muss“

Der Verein Tafeln Deutschland e.V. findet deutliche Worte: „Tafeln sind eine Ehrenamtsbewegung und kein Teil des sozialstaatlichen Systems – das können und das wollen wir auch nicht sein. Unsere Idee war es ursprünglich, Lebensmittel zu retten und damit Menschen mit wenig Geld zu entlasten oder in akuten Notsituationen zu helfen. Es war nie vorgesehen, dass wir notwendige Existenzhilfe sind. Wir appellieren an die Politik, dass sich etwas verändern muss. Gemeinsam mit anderen Verbänden machen wir deutlich, dass armutsbetroffene Menschen ausreichende Unterstützung vom Staat erhalten. Dazu gehören unter anderem krisenfeste Regelsätze.“

Nicht nur die Bundesorganisation weist auf diverse Mißverständnisse hin, auch die lokalen Tafeln informieren darüber, beispielsweise die Tafel Öhringen in einem Infoblatt.

Lidl sieht sich als Partner der Tafeln

Konkrete Zahlen, ob und wie stark die Abgabemengen an die Tafeln durch die „Rettertüte“ gesunken sein könnten, nennt Lidl nicht. Aber man sieht sich auch bei lidl in der sozialen Verantwortung: „Als einer der führenden Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland verstehen wir uns als Teil der Gesellschaft und übernehmen Verantwortung. In diesem Rahmen ist die Partnerschaft mit den Tafeln ein wichtiger Baustein. Bereits seit 2008 arbeitet Lidl intensiv und vertrauensvoll mit den Tafeln in Deutschland zusammen.Die zentrale Steuerung läuft über die Lidl-Hauptverwaltung in Bad Wimpfen. Bundesweit haben wir zusätzlich 39 Tafelbeauftragte benannt, die in unseren 39 Regionalgesellschaften die Zusammenarbeit mit den regionalen Tafeln koordinieren. Die verzehrfähige und lebensmittelrechtlich unbedenkliche Ware holt die jeweilige Tafel deutschlandweit an unseren Filialen und Logistikzentren ab. Die Mitarbeiter in den Lidl-Filialen stellen den regionalen Tafeln die Lebensmittel auch weiterhin kostenlos zur Verfügung. Die Menge variiert dabei je nach tagesaktuellen Abverkäufen in den Filialen und der Frequenz der Tafelabholung.“

Fast 1.000 Tafeln unterstützen ca. 2 Millionen Menschen, zwei Tafeln befinden sich im Hohenlohekreis: Sowohl in Öhringen als auch in Künzelsau können Menschen im Tafelladen einkaufen.

Ansprechpartner: Diakonische Bezirksstelle Künzelsau, Tel. 07940 2192

Lidl weist auf die Aktion „Kauf eins mehr“, bei der Kunden insbesondere haltbare Lebensmittel spenden konnten, und auf die Möglichkeit der Pfandspende hin, mit der bereits 26 Millionen Euro an die Tafeln geflossen seien, und verspricht: „Als verlässlicher Partner wird Lidl auch in Zukunft die Tafeln unterstützen, damit sie ihrer wichtigen Aufgabe in der Gesellschaft nachkommen können“ – aber auch in diesem Statement schwingt unterschwellig die Annahme mit, dass die Tafeln eine gesellschaftliche Versorgungsaufgabe haben.  

Tafeln müssen reagieren

Situation der Tafeln, August 2022. Foto: Screenshot

Die Situation, dass immer mehr Menschen durch Inflation oder Flucht in die Situation kommen, Tafelkunden zu werden, zwingt die örtlichen Tafeln zu restriktiven Maßnahmen: Aufnahmestopps, kleinere Abgabemengen pro Kunde oder Wartelisten wurden bereit eingeführt: „Das ist so unbefriedigend, die Leute zu enttäuschen“, sagt Kallerhoff.

Sozialgipfel gefordert

Die Sozialverbände  VdK Deutschland, SoVD Deutschland, Deutscher Mieterbund und Tafel Deutschland haben nun von Bundeskanzler Scholz einen Sozialgipfel gefordert: „Wir als Bündnis fordern Sie daher auf, so schnell wie möglich die Betroffenen zu beteiligen und einen Sozialgipfel einzuberufen. SoVD, VdK, Tafel Deutschland und Deutscher Mieterbund stehen dafür bereit“, heißt es in dem Brief des Bündnisses. „Deutschland befindet sich längst in einer akuten Notsituation. Darauf muss die Politik zügig reagieren. Mit den ersten beiden Entlastungspaketen wurde bereits viel Geld ausgegeben, das kommt bei den Betroffenen aber nicht an“, sagt Jochen Brühl, Vorsitzender Tafel Deutschland e.V. Und weiter: „Als die drängendsten Themen sehen Tafel Deutschland und die Bündnispartner eine 300 Euro-Energiepauschale für Rentnerinnen und Rentner, die höheren, armutsfesten Regelsätze beim Bürgergeld und in Grundsicherung, eine zügige Wohngeld-Reform, einen dauerhaften Heizkostenzuschuss für alle einkommensschwachen Haushalte, ein Kündigungsmoratorium für Mieterinnen und Mieter sowie die Einführung der Kindergrundsicherung.“

Seit mehr als einem Monat hat Scholz nicht reagiert.

Text: Matthias Lauterer